10. Über Schönheit und Nutzen von Längen- und Breitengraden
Der aufgeklärte Hamburger und die Wissenschaft
Dies ist Teil 10 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung einer kleinen Republik 1790–1835. Die Aufklärung in Hamburg hat ihre eigene Homepage, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Der praktisch gesinnte Bürger Hamburgs liebte die Tatsachen und fand sie in den Wissenschaften. Die hatten nützlich zu sein und bei der Verbesserung der Welt zu helfen. Darüber hinaus konnten sie auch die Konflikte des politischen Lebens überwinden, was man anderweitig herausgefunden hatte. Der Fürstprimas des Rheinbundes, Karl Theodor von Dalberg, schrieb 1802 eigens ein Buch zu diesem Thema: De l’influence des sciences et des beaux-arts sur la tranquillité publique , über den Einfluss der Wissenschaften und der schönen Künste auf die öffentliche Ruhe also. Madame Pauline, die Herrin des Landes Lippe und spätere Bade-Freundin Amandus Augustus Abendroths im Ritzebütteler Seebad, las es ihren Reisebegleitern vor, schön geschrieben und herrlich gedacht fand sie es. Sie war gerade unterwegs zu ebenjenem Fürsten, um dem Rheinbund beizutreten.[1] In Dalbergs Audienzzimmer im Aschaffenburger Schloss stand ein Kopf Napoleons mit Strahlenkranz neben dem Kanapee. Möglicherweise gab es einen Zusammenhang zwischen dem großen Kaiser und der modernen Welt des Wissens?
Die Ursprünge jener optimistischen Weltsicht reichten bis in die Antike. Emolliunt mores, lobte Cicero die Wissenschaften. Emolliunt mores,[2] sie verfeinern die Sitten, zitierte Senator Abendroth den römischen Überrepublikaner. Auch dieser Bürger liebte die klassische Bildung und gab gern bei passender Gelegenheit Kostproben davon weiter.
Eine gewisse Skepsis gegenüber den spekulativen Wissenschaften war in der Hamburger Republik allerdings weit verbreitet. 1825 hatte Bremens Bürgermeister Johann Smidt einen Wissenschaftler auf Vortragstour nach Hamburg empfohlen, doch Elbsenator Abendroth warnte vor allzu hohen Erwartungen.[3] Die Republik war seiner Ansicht nach kein Hort der Forschung um der Forschung willen und sollte es auch nicht sein, für ein bloß beschauliches oder contemplatives Leben paßt Hamburg nicht, und kann bei der allgemeinen Betriebsamkeit nie dazu passen.[4] Diese Ansicht war unter der Elite ziemlich weit verbreitet. Sie war auch nicht ganz neu.
Gelehrte und Wissenschaftler fielen in ihrem Lebenszuschnitt deutlich hinter den glänzenden Luxus der Handelsmetropole zurück und die elegante Gesellschaft ließ sie das fühlen.[5] Die Skepsis gegenüber Intellektuellen verstärkte sich eher noch. Gegen 1780 studierten in Göttingen noch etwa 40 Hamburger, bis 1800 war die Zahl stark gesunken. Pro Jahr gingen gerade mal zehn bis zwölf Studenten aus der Hansestadt an die verschiedenen deutschen Universitäten.[6] Professor Johann Georg Büsch vom Akademischen Gymnasium erklärte im Jahr 1800 rundheraus: Dies ist die so allgemein gewordne Abneigung unserer Stadtkinder vom Studieren.[7]
Er hatte auch eine sehr handfeste Erklärung dafür: Im Handel war mehr Geld zu verdienen, viel mehr Geld. Auch schützte das Studium nicht vor schnöder Raffgier. Juristen versumpften in der behaglichen Ausübung der goldnen Praxis, kümmerten sich also nur ums Geldverdienen, so die kritische Ansicht Dr. Meyers von der Patriotischen Gesellschaft.[8] Auch Büschs Handelsakademie litt. Es lag vielleicht daran, dass sie trotz ihres Namens kein Schmalspurinstitut für Faktenhuber sein wollte.[9] Bis 1787 kamen von 282 Studenten nur 53 aus Hamburg.[10]
Die Geschäftswelt erwartete Sicherheit beim Dreisatz und eine ordentliche Handschrift. Wie den Briefen aus Hamburg und Lübek des Publizisten Garlieb Merkel zu entnehmen ist, brillierte ein gewisser Herr G. in der Vermittlung dieser basalen Kompetenzen unter erheblichem Einsatz von Werbung bei den Vätern und Prügel bei den Schülern. Sein Institut war das größte und einträglichste der Stadt, die etwas herbe Praxis galt als pädagogische Sorgfalt.[11] Es handelte sich wohl um das Institut von Andreas Grüning, das von 1792 bis 1810 bestand und mehr Schüler als Büschs Handelsakademie hatte.[12] Der ärgerte sich. Die Institute hatten es scheinbar darauf abgesehen, daß in ihnen kein Kopf für die Wissenschaften sich vorbereiten, auch keinem die Aussicht entstehen solle, als öfneten auch sie einen Weg zum künftigen Glücke, und zur Zufriedenheit des Lebens.[13] Mit anderen Worten: kommerzielle Tretmühlen.
Der Handelsgeist führte zu gewissen Härten im Wirtschaftsleben. Man konnte wenig dagegen tun und Abendroth nahm es mit Humor. Bei seinen Streifzügen durch die Ritzebütteler Geschichte war er auf Elbanrainer gestoßen, die schon in frühen Zeiten sehr humane Gesinnungen äußerten. Es half nur nicht viel, da sie bei aller Humanität thätlich ihre Habsucht nicht immer unterdrücken konnten.[14] Menschliches und allzu Menschliches. Man traf es zu allen Zeiten und an allen Orten, vorzüglich natürlich in kommerziellen Republiken, wo mit dem spitzen Bleistift gerechnet wurde.
Für Wissenschaftler konnte es eng werden. Die Skepsis war so deutlich, dass Ferdinand Beneke sie im Hanseatischen Magazin öffentlich diskutierte: Auch wollen viele bemerken, daß man in neuern Zeiten in Hamburg bei den meisten Kaufleuten die achtungsvolle Rücksicht vermisse, mit welcher sonst in diesen Städten besonders, (und gewiß noch in Bremen) der sogenannte Gelehrtenstand von seinen Mitständen behandelt wurde, und daß diese immer mehr mit einer Art von Verachtung auf die Gelehrten herabsähen.[15]
Auf der anderen Seite bildete Hamburg eine kleine Elite aus, die gemeinnützige Politik mit sozialem Unternehmertum und naturwissenschaftlicher Forschung verband. Dieser Typ des Wissenschaftlers ließ die großen Spekulationen, die Systeme, auf sich beruhen. Er experimentierte, baute Präzisionsinstrumente, auch Löschmaschinen für die Feuerwehr. Er vermaß und verbesserte die Welt. Mit anderen Worten, diese Wissenschaft sollte nützlich und praktisch sein, eine Wissenschaft für Feuerwehr und kommunale Wasserversorgung, für Deichbauten und Navigation. Praktische Anwendbarkeit zählte in der kommerziellen Republik auch in der Grundlagenforschung, in der Astronomie zum Beispiel. 1802 gründete Johann Georg Repsold, Feuerwehrmann, Unternehmer, Astronom und seit 1798 Assoziierter der Patriotischen Gesellschaft,[16] am westlichen Ende der Stadt an der Elbe eine Sternwarte.
Nach seinem Tod attestierten ihm Senat und Bürger der Republik große Verdienste um die Wissenschaften im Allgemeinen und um unsere Stadt insbesondere.[17] Praktisch ausgebildet hatten ihn die führenden Naturkundigen der Republik: Wasserbaudirektor Reinhard Woltmann und Landvermesser Johann Theodor Reinke. Die erste Festanstellung bei der Elbaufsicht erhielt er 1796. Senator Johann Arnold Günther prüfte ihn.[18] Vom Wasserbau kam Repsold zur Feuerwehr,[19] von der Feuerwehr zur Feinmechanik, von der Feinmechanik zur Astronomie. Karrieren für praktisch geschulte Multitalente waren noch möglich.
Zu Besuch ins Himmelsobservatorium kam Carl Friedrich Gauß, der berühmte Professor und Sternwartendirektor aus Göttingen. Er war beindruckt.[20] Dies umso mehr, als Repsold seine Instrumente selbst konstruierte. In wolkenlosen Nächten beobachtete er die Sterne. Zeitgenossen verglichen ihn mit Joseph von Fraunhofer,[21] dem Namensgeber der heutigen Fraunhofer Gesellschaft. Die Sternwarte, eine der besten Deutschlands, überlebte die Vereinigung mit Frankreich nicht. Aber 1825 wurde sie, wieder auf Initiative Repsolds und Reinkes, am Millerntor neu begründet – zusammen mit der Navigationsschule. Fast wäre es gelungen, Gauß aus Göttingen abzuwerben und zum Direktor zu ernennen.[22]
Die Berechnung der Breiten- und Längengrade war eine bürgerliche Passion. Johann Theodor Reinke beteiligte sich, Meisterschüler Ernst Georg Sonnins – des Architekten der Michaeliskirche, der als eine Art lokaler Leonardo da Vinci galt.[23] Die Herren verglichen Daten, verzeichneten Diskrepanzen, analysierten Fehler und waren mit Eifer für Wahrheit und allgemeine Nützlichkeit ganz in ihrem Element.[24] Heinrich Christian Schumacher aus dem nahen Altona, dänischer Professor und Mathematiker, berechnete nach dem Polarstern die geografische Position der Sternwarte, fand aber mit trockenem Humor, dass sich der Turm der Michaeliskirche dafür besser eigne, da er nach menschlichem Ermessen länger stehen würde.[25] Eine ganz richtige Annahme. Er verließ sich dabei auf Repsolds Beobachtungen. Überhaupt weiß man, wenn man aus Repsold’s Journalen rechnet, nicht, ob man die Trefflichkeit des Instrumentes oder die Geschicklichkeit des Beobachters mehr bewundern soll.[26] Gouverneur Abendroth führte gleich auf den ersten Seiten seiner Cuxhavener Landeskunde den Breiten- und Längengrad des Schlosses und des Neuwerker Turms an, zog dabei übrigens noch die Länge von Ferro (Hierro) der Länge von Greenwich vor.[27] Den Längengrad des Schlosses musste er in der Neuausgabe von 1837 korrigieren.[28] Die Wissenschaft hatte neue Werte ermittelt. In seiner Hamburger Topografie gab Franz Neddermeyer gleich in Tabelle 1 die geografische Lage der Kirchtürme und Stadteile nach den Messungen Schumachers an.[29]
Aktivitäten dieser Art waren kein Selbstzweck. Seit der Gründung des Observatoriums gehörte es zu dessen Aufgaben, den sich etwa einfindenden Uhrmachern die Zeit mitzuteilen.[30] Diese präzisen Zeitmessungen wurden gebraucht zur genauen Einstellung von Schiffsuhren, die ihrerseits unabdingbar waren zur Bestimmung des Längengrades.
Kapitäne konnten anhand der Sonnenhöhe den Breitengrad, nicht aber den Längengrad bestimmen. Dafür waren genau gehende Uhren nötig. Uhren aber vertrugen keine Seereisen, da Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen sowie das Schaukeln der Schiffe ihre Genauigkeit beeinträchtigten. Dann konstruierte John Harrison supergenau laufende Chronometer, die gegen diese Beeinträchtigungen gefeit waren, und der Navigator konnte messen und rechnen. Der Unterschied von einer Stunde zwischen Ortszeit und Zeit des Heimathafens macht einen Unterschied von 15 Längengraden aus. Die 15 Grad rechnete er in Kilometer um.[31] Das Längengradproblem war gelöst.
Die Kapitäne wussten nunmehr, wo sie waren, und für Sternwarten und Uhrmacher begann ein goldenes Zeitalter. Ab jetzt brauchte jedes Schiff einen genau eingestellten Chronometer. Es gab also für die feinmechanischen Werkstätten Repsold einen Markt. Im weitesten Sinne war mit Astronomie Geld zu machen; eine ihrer Uhren ging 1810 nach Königsberg, wo sie als Hauptuhr der Sternwarte genutzt wurde.[32] In den 1830er-Jahren waren die astronomischen Instrumente der Firma Repsold den englischen klar überlegen.[33] Ein ganz neues Lebensgefühl auf hoher See entstand. Der Bürger genoss die wissenschaftliche Präzision der Messungen und fühlte sich gut aufgehoben in der nunmehr durchschauten und berechneten Welt. So auch Syndikus Karl Sieveking, 1827 in diplomatischer Mission für Hamburg unterwegs über den Atlantik nach Rio de Janeiro: Welch ein Gefühl von Sicherheit, daß man auf weitem Meere in jedem Augenblick genau die Stelle angeben kann, wo man sich befindet.[34]
Auch Johann Heinrich Bartels hatte geforscht und Süditalien historisch, kunstgeschichtlich, religionspolitisch und volkswirtschaftlich beschrieben. Kritiker seiner Forschungsergebnisse mussten sich warm anziehen, auch wenn es sich dabei um den geschätzten Joachim Heinrich Campe handelte. Der wissenschaftliche Dialog konnte leicht in Gestänker ausarten. Es sieht so aus, als hätte Bartels angefangen. Hr. Bartels in Göttingen hat … einen Ausfall auf mich zu thun für gut gefunden,[35] der einer Antwort nicht würdig sei, schrieb Campe 1790 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, antwortete dann aber doch ziemlich ausführlich. Bartels ließ nicht locker und ersuchte seinerseits Herrn Campe, mich mit solchen Beurteilungen fernerhin zu verschonen; ihn kann und werde ich nie als gültigen Richter über meine Nachrichten anerkennen, wenn er nicht anders selbst eine Reise nach Sizilien antreten sollete.[36]
Auch Freund Friedrich Münter, später Theologieprofessor in Kopenhagen, musste sich einige kritische Bemerkungen über seine Nachrichten von Neapel und Sizilien gefallen lassen. Sie hatten, wie Bartels seinen Lesern erläuterte, bei aller Vorzüglichkeit doch gewisse Schwächen: zu rasch im Urteil, zu unkritisch gegenüber Statistiken, oberflächlich in Kunstsachen.[37] Emolliunt mores, richtig, aber Konflikten durfte der Wissenschaftler nicht aus dem Wege gehen. Die aufgeklärte Elite der kleinen Republiken Europas erforschte also die Natur zwecks besserer Nutzung durch den Menschen.
So machte es Bartels in Kalabrien, gab die Breiten an, über die sich die Halbinsel erstreckte, berechnete die wirtschaftliche Gesamtleistung, fasste Entfernungen und Flächeninhalt zusammen – und verirrte sich dabei hoffnungslos in den vielen verschiedenen Maßeinheiten, mit denen sich die Naturforscher und Geografen herumschlagen mussten.[38] Von italienischen Meilen war die Rede, von Millien, Schritten und Moggien, eine Moggia gerechnet zu 30 Schritt im Quadrat, ein Schritt zu 7 Palma. Aber was wusste der deutsche Leser davon? Um ihn zu unterrichten, rechnete Bartels die Moggien und Palmen in Pariser Füße und geografische Meilen um. Den Versuch war es wert, man musste die Fakten kennen. Aber vielleicht waren die republikanischen Maße im Dezimalsystem doch keine so schlechte Idee. Davon später mehr.
Dass man die Fakten kennen musste, fand auch Senator Amandus Augustus Abendroth. Er schrieb eine Landeskunde über seine Provinz Ritzebüttel an der Mündung der Elbe, heute Cuxhaven und Umgebung. Das Land war zugegebenermaßen klein, 2.632.000 Quadratruten.[39] Aber seine Landeskunde war keine Heimatkunde, kein gemütliches Herumkramen in alten Zeiten. Sie entsprach dem, was Alexander von Humboldt über Mexiko und Kuba geschrieben hatte: die geografisch-statistisch-soziale Analyse eines Landes und einer Gesellschaft.
Nichts fehlte: der Längen- und Breitengrad des Neuwerker Leuchtturms und des Schlosses;[40] die Bevölkerungszahlen der Dörfer; der Gesamtwert der Immobilien;[41] der Viehbestand oder die thierische Bevölkerung,[42] wie der Gouverneur es nannte; die gewerblichen Betriebe; die Hydrologie der Elbe, die Temperatur und chemische Zusammensetzung des Wassers und seine Eignung für den Badebetrieb.[43] Eines fehlte aber doch: Höhenmessungen, mit denen sich Humboldt in den Anden so große Mühe gegeben hatte. Die waren nicht nötig, das Land war flach, davon konnte man sich mit einem Blick überzeugen. Dafür lieferte Abendroth Angaben über die Fließgeschwindigkeit der Elbe[44] und Daten über die Wasserstände bei Ebbe und Flut,[45] essentiell, wenn der Strom für die Schifffahrt reguliert werden sollte. Als Senator und Bürger betrieb er praktische Natur- und Sozialwissenschaft, so wie die Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe in Hamburg. Er selbst nannte es Wissen mit einem unmittelbaren Nutzen für die bürgerliche Gesellschaft.[46] Keine nutzlosen Spekulationen über Neptunismus oder Plutonismus, die damals gerade im Schwange waren. Die goethesche Farbenlehre war ihm wahrscheinlich auch egal. Auf die Anwendbarkeit kam es an.
In dieser Form aber war Naturwissenschaft schon für Kinder wichtig, nicht als Erlernung eines Systems, das verstand sich von selbst, sondern als nähere Bekanntschaft mit den Dingen.[47] Der Standpunkt war realistisch und produktiv. Der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung war begeistert. Das Buch sei kurz und rasch geschrieben, jedes Wort eine Thatsache. Und zu verdanken war es dem Senator Abendroth, der Cuxhaven in kürzester Zeit wieder zu blühendem Flor erhoben hatte.[48]
Für den ergab sich daraus eine gewisse Skepsis gegenüber anderen Wissenschaften, der Geschichtsschreibung zum Beispiel. Je kleiner der Ort, desto irrelevanter wurde diese Wissenschaft in jedem Falle – eine ernüchternd praktische Ansicht. Es wäre allerdings möglich, so warnte Gouverneur Abendroth die Leser seiner Nachrichten aus Ritzebüttel und Umgebung, aus der ältern in ein heiliges Dunkel gehüllten Zeit eine romantische Beschreibung zu liefern; man könnte die Fehde Hamburgs mit den Herren von Lappe ausmahlen; man könnte den Krieg mit den Seeräubern beschreiben, sich mit wichtigen Minen auf die Archive berufen und, einem Livius und anderen Geschichtsschreibern gleich, die Reden anführen, welche die gegenseitigen Anführer an ihre Truppen gehalten, um sie zum Kampf zu begeistern; man könnte Bülletins drucken lassen und die Sieges-Tedeums beschreiben. Allein wenn alles dies gut ausgeführt wäre, würden die Leser höchstens sagen: e ben trovato.[49] Und wenn es schon nicht stimmt, na immerhin gut erfunden, so ist das wohl zu übersetzen.
Er erläuterte dann auch noch gut gelaunt, dass es möglicherweise billiger kam, in der Weltgeschichte verloren zu gehen. Auf den alten Karten Deutschlands war Ritzebüttel nicht zu finden. Zum Glück. Nachdem die Mächte es entdeckt hatten, war Plünderung die unmittelbare Folge.[50] Der Senator zeigte Neigung zu leichtem Sarkasmus. Im Übrigen hatte er für den romantischen Glanz mittelalterlicher Geschichte keinen Sinn. Feudale Anarchie und fehlgeschlagene Versuche, sie per Vertrag zu bändigen, so seine Analyse, denn die Verträge konnten, nach der dermaligen Lage der deutschen Angelegenheiten, wo noch durch keinen Landfrieden das Eigenthum geschützt war, wenig helfen.[51]
Der juristische Dr. Beneke hatte für dieses naturwissenschaftliche Zergliederungs- und Faktenwesen wenig Sinn. Wenn er sich über trockene Aufklärer lustig machen wollte – und das wollte er – fiel ihm die Runkelrübe ein und die führte direkt zur Runkelrübenaufklärung.[52] Da konnte sich manch einer angesprochen fühlen, zum Beispiel die Patriotische Gesellschaft, wo man sich im Februar 1799 traf, um diesen wichtigen Aspekt agronomischen Fortschritts zu begutachten und ein Stück der süßen Wunderpflanze zu probieren.[53]
Beneke hingegen befragte die Natur nicht nach Zuckergehalt, Quadratruten oder Längengraden. Er interessierte sich für das Erhabene und das führte ins Unendliche. Der Ausgangspunkt war die Natur, das Ziel aber waren Seele und Gefühl. Zu erleben war das Unendliche bei einem Gewittersturm an der Elbmündung. Wolkenloser Horizont. Wellenloses Meer. Das schönste Bild der Unendlichkeit, und Ewigkeit im Dunkelblau der Nacht. Einsahm stand über dem Meere der Mond im Nordwesten. Auf der reinen Folie des wahren, und des scheinbahren Universums keine Flekken, als die goldener ferner Welten, oder kleiner Wellenspiele. Aus dem Südwesten zog über das Meer mit „seinem Donnertritte“ ein Gewitter herauf, und durch die Schwühle des Sommers drangen die lauen Lüftchen, seine Vorboten, und spielten mit den schlaffen Seegeln des Schiffes usw. Kurz ich fixirte mein Gefühl des Erhabensten auf keinen Erdpunkt, sondern ich goß es aus über das Unendliche, und verlohr mich selbst drin, und dieses Verlieren war mein Ziel.[54]
Ähnlich, aber mit charakteristischer Akzentverschiebung ins Religiöse, fiel die Betrachtung einer Sonnenfinsternis im Sommer 1820 aus. Es gebe faktisch nicht viel zu lernen, meinte Beneke, und ließ sich lieber von Ahnungen unsrer einstigen Erlösung von der Leibeigenschaft der Erde zu der Freyheit der Kinder Gottes [55] inspirieren. Er imaginierte, wie sich forschende Blicke der Erdbewohner mit den ebenso forschenden Blicken der Mondbewohner kreuzten; wer sind diese unsre Mitgeschöpfe? Sind Geliebte darunter?[56] Beunruhigende und beängstigende Fragen, wenn auch etwas skurril. Am nächsten Tag wanderte er mit Frau und Kindern vors Altonaer Tor – zu einer Tierschau. Vor den Käfigen musste er nicht ohne einigen Schauder an die Möglichkeit einer (bey Bösen) auch abwärts führenden Seelenwanderung denken; wenn das die Hölle war, dann war ihre Mannigfaltigkeit, und Tiefe unermeßlich.[57]
Senator Abendroth ging das Gefühl der Erhabenheit nicht ganz ab. Interessanterweise ergriff es ihn im gleichen Augenblick wie Beneke, beim Anblick der weiten Elbe in Ritzebüttel: Die größte Merkwürdigkeit des Amtes bleibt stets: der immer erhabene Anblick des unermeßlichen Meeres, und des gewaltigen Stromes in aller seiner Pracht und Herrlichkeit, der nie aufhört, uns den Segen übers Meer zu bringen, der aber auch oft, wenn er zürnt, Zittern und Zagen verbreitet.[58] Typisch war aber, dass er gleich zum Segen des Handels und den realen Gefahren von Sturmfluten zurückkehrte, während Beneke in den Tiefen und Untiefen der Unendlichkeit vorübergehend unauffindbar blieb.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Tagebuch der Fürstin Pauline 8.1.1807, in Niebuhr: Fürstin, S. 24.
[2] Abendroth: Antwort, S. 21.
[3] StAB, Nachlass Smidt, 7 20 VIII C d 1, Abendroth an Smidt, 11.10.1825.
[4] StAHH, Senat Cl VII Lit He No 1 Vol 33 Dok 42, Memorandum Abendroths, 3.8.1831, S. 5.
[5] Kopitzsch: Grundzüge, Tl. 1, S. 323–325 und 328f.
[6] Heß: Hamburg, Teil 3, S. 411.
[7] Büsch: Wort, S. 44.
[8] Meyer: Skizzen, Bd. 2. S. 304ff, Zitate S. 306 und 307.
[9] Büsch: Wort, S. 62.
[10] Kopitzsch: Grundzüge, Tl. 2, S. 525.
[11] Merkel: Briefe, S. 264–266.
[12] Kopitzsch: Grundzüge, Tl. 2, S. 675.
[13] Büsch: Wort, S. 46.
[14] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 189.
[15] Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 484.
[16] Verhandlungen und Schriften, Bd. 6 (1801), S. 7.
[17] Anderson/Lappenberg: Sammlung, Bd. 11, S. 123.
[18] Koch: Spritzenmeister, S. 36.
[19] Brandt: Astronomiegeschichte, S. 48.
[20] Heß: Hamburg, Teil 1, S. 63–65.
[21] Das tat einer der ersten Architekten Hamburgs, Carl Ludwig Wimmel. Hannmann: Wimmel, S. 124. Er entwarf auch ein Repsold-Denkmal, das allerdings nicht realisiert wurde.
[22] Brandt: Astronomiegeschichte, S. 52f.
[23] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 26–28.
[24] Heß: Hamburg, Teil 2, S. XVI.
[25] Heß: Hamburg, Teil 2, S. XIV-XVI; eine Übersicht über die Messdaten findet sich bei Hübbe: Ansichten, Bd. 1, S. 1-4.
[26] Schumachers Zitat nach Repsold: Nachrichten, S. 25.
[27] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 2f.
[28] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 2, S. 14.
[29] Neddermeyer: Statistik, S. 7. In Neddermeyers Statistiken lassen sich übrigens die Langzeitwirkungen der Sozialpolitik Abendroths und Bartels’ besonders gut ablesen.
[30] Brandt: Astronomiegeschichte, S. 58.
[31] Sobel: Längengrad, S. 13–15.
[32] Koch: Spritzenmeister, S. 47. 1820 stellte die Firma die Uhrenproduktion allerdings wieder ein, ebd., S. 62.
[33] Gallois: Geschichte, Bd. 3, S. 530.
[34] Zitiert nach Poel: Bilder, Bd. 2, Abtlg. 2, S. 51.
[35] Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung, 6.1.1790.
[36] Bartels: Briefe, Bd. 3, Vorrede, S. 12.
[37] Bartels: Briefe, Bd. 3, Vorrede, S. 15.
[38] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 35f.
[39] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 3. Die Hamburger Quadratrute hatte knapp 22 Quadratmeter, die bayerische 9, die preußische 14, allein dies schon ein Zeichen für das Chaos der Maße und Gewichte.
[40] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 3.
[41] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 17.
[42] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 15.
[43] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 2, S. 2f.
[44] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 98.
[45] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 94–99.
[46] Abendroth an F. J. L. Meyer, den Geschäftsführer der Patriotischen Gesellschaft, zitiert nach Tilgner: Abendroth, S. 59.
[47] StAHH, Allg. Armenanstalt I 124, Kommentar Abendroths zur Schulreform, 21.12.1800.
[48] Ergänzungsblätter zur Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 7, Januar 1825, Sp. 54–56.
[49] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 179f.
[50] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 180.
[51] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 181.
[52] Beneke: Tagebücher, 11.10.1805.
[53] Beneke: Tagebücher, 27.2.1799.
[54] Beneke: Tagebücher, 14.3.1798.
[55] Beneke: Tagebücher, 7.9.1820.
[56] Beneke: Tagebücher, 7.9.1820.
[57] Beneke: Tagebücher, 8.9.1820.
[58] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 7.