Dies ist Teil 11 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung einer kleinen Republik 1790–1835. Die Aufklärung in Hamburg hat ihre eigene Homepage, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Die Hamburger Aufklärer hatten eine Idee von sich selbst und ihren Mitbürgern: Vernünftig, liberal und gebildet wollten sie sein, mit anderen Worten aufgeklärte politische Geschäftsleute. Mit den protokollarischen Höflichkeiten der Republik hatte das nur noch bedingungsweise, mit der heute gern beschworenen hanseatischen Tradition gar nichts zu tun.
In ihrer Jugend hatten sie noch strengere Umgangsformen eingeübt. Johann Heinrich Bartels sprach seinen Vater mit Sie an.[1] Aber das verlor sich. Die neue Zeit schätzte privat einen direkten und einfachen Umgang, der trotzdem auf graduelle Unterschiede der Nähe und Wertschätzung nicht verzichtete. Herzlich wollten die Bürger sein, aber nicht überschwänglich. Sie verbanden das Du in der Ansprache mit dem Nachnamen: Mein lieber Abendroth, schrieb Freund Bartels 1802 aus Wiesbaden – er war gerade auf Badereise – und richtete ein paar familiäre Bitten an den Zuhause-Gebliebenen: Halte meine Jungens ein wenig in Zucht, damit sie der Mutter es nicht zu arg machen und behalte lieb Deinen Bs.[2] Johanna Abendroth hingegen, die Schwester seiner Frau, sprach er mit Sie an.[3]
In der Du-Nachname-Form verkehrten Abendroth und der Finanzminister der Republik, Syndikus Jakob Albrecht von Sienen, miteinander.[4] Auch Bartels, längst Senator, und der gerade ins Bürgerschaftspräsidium gewählte Otto von Axen sprachen sich so an und kombinierten das vertraute Du selbstverständlich mit dem Familiennamen. Lieber Bartels … du thätiger Mann, schrieb Axen 1816 zur Frage der Gesundheitsreform an seinen Freund.[5]
Das Du signalisierte Zuneigung, die sich gern in sinnreichen Gedichten äußerte. Der richtige Blik, der zarte Sinn / Der Sinn für Schönheit und Wahrheit / Wo reißt er unwiderstehlich hin / Bezaubert durch Fülle und Klarheit / Als hier wo Du fühlst, Du mahlst und Du schreibst / Dein originelles Wesen treibst![6] So dichtete Bartels seinen Kollegen und Freund Johann Ernst Friedrich Westphalen an. Auch Senatoren waren empfindsame Wesen – oder etwa nicht? Der dänische Gesandte Rist erinnerte sich an Westphalen als einen durchaus weltlich gesinnten, prosaisch rüstigen, thätigen, wohlbeleibten und sinnlichen Menschen,[7] was im Kontrast zu seiner feinsinnig dichtenden Gattin Engel Christine noch stärker auffiel.
Duzen war selten, häufiger ein respektvoll-republikanisches Sie, verbunden mit dem Nachnamen. Der Habitus sprach nicht für emotionale Kühle, eher für solide-unaufgeregten Fortschritt in den Umgangsformen. Die Aufklärung war auch eine bürgerlich-temperierte Lebensreform. Die barocken Wohlweisheiten und hochgelehrten Gunsten in der Anrede waren zu festlichen Formeln erstarrt, ungebräuchlich im täglichen Leben, ersetzt durch geschäftsmäßige, gern etwas Eile ausdrückende Kurzformeln. Man hatte sich um wichtige Dinge zu kümmern, den Fortschritt zum Beispiel und das Defizit der Armenanstalt. Auch das Sie mit Familiennamen konnte dann politisch-persönliche Bündnisse signalisieren. Johann Ernst Friedrich Westphalen sprach den Kollegen Abendroth mit Sie an, verband das aber mit den freundlichsten Wendungen wie mein herzlich geliebter Freund.[8] Solche Deklarationen der Freundschaft näherten das förmliche Sie dem Du an, ohne einen allzu familiären Ton anzuschlagen.
Das Sie kombiniert mit dem Nachnamen konnte aber auch eine gewisse Distanz signalisieren. Otto von Axen redete so seinen Schwiegersohn Beneke an.[9] Eine gewisse Kühle und Reserviertheit war fühlbar. Der aufgeklärte Reformer stand dem national entflammten Schwiegersohn skeptisch gegenüber.
Vaterländische Solidarität hingegen wirkte sich Du-fördernd aus. So schlug Ludwig von Vincke, preußischer Zivilgouverneur der Regionen zwischen Weser und Rhein, Ferdinand Beneke das trauliche Du[10] vor. Das hatte etwas von politischer Seelenfreundschaft an sich. Manchmal bekam das Sinnig-Vaterländische einen Drall ins Skurrile. Den Vogel schoss Hermanna Heineken ab, eine enge Freundin Benekes mit besonderer Neigung zum Magnetismus. Ihre Seelenergüsse klangen leicht blasphemisch. Am heiligen Geburths Feste des lieben, deutschen Vaterlandes, so wandt sie sich am zweiten Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht an Beneke, grüße ich Sie, lieber, deutscher Ferdinand, mit heitrem, frohen Schwestergruß.[11]
Diese Sorte von Exaltiertheit war gar nicht so selten. Liebe Deutsche Frau![12] schrieb 1814 auf dem Höhepunkt der Befreiungseuphorie ein bewaffneter deutsche Bürger, der Gardechef und Bleideckermeister David Christopher Mettlerkamp, an Benekes Frau Caroline. Sie kam in einem Brief an ihren Mann darauf zu sprechen: Ich habe ein allerliebstes Briefchen von M, worinn er mich liebe teutsche Frau nennt, und daß hat meinen Ohren sehr wohl geklungen, und dem Herzen hat dieser ehren Titel hoch erfreuet.[13] Noch lieber hörte sie die Anrede von ihrem Ferdinand, der ihr auch prompt den Gefallen tat.[14] Überhaupt herrschte ein zärtlicher Ton zwischen ihnen. Guten Morgen theurer lieber Ferdinand, begrüßte ihn Frau Caroline und sagte dann liebe Seele.[15]
Aber so ging es nur im engsten Familienkreis zu. Anreden an adlige Personen standen auf einem anderen Blatt. Caspar von Voght, obwohl von allerjüngstem Kunstadel, wurde von Abendroth „mein verehrter Herr Baron von Voght“ tituliert, wenngleich er das beim Schreiben in seiner gewöhnlichen Eile auf Hr B v Voght kürzte.[16] Ein General von Bennigsen war selbstredend Ew. Exzellenz ohne Wenn und Aber.[17] Anreden an das Volk hörten sich dagegen etwas anders an. Seg mal, Petersen, wandte sich Polizeichef Abendroth an einen vom Wege abgekommenen Nachtwächter, … hest du nich güstern Abend um halbig twölf en Fremden na de olle Stadt London bröcht? Petersen verstand das klugerweise nicht als Anbahnung von Vertraulichkeiten, war auf der Hut und redete Senator Abendroth mit wohlweiser Herr an. So jedenfalls berichtet die Hamburger Folklore und so gehörte es sich.[18]
Man erkannte den Bürger an seiner Kleidung. Öffentliche Veranstaltungen wie die Industrieausstellungen der Patriotischen Gesellschaft forderten nicht nur Eintrittsgeld, sondern auch anständige Kleidung. Was aber machte die aus? Ferdinand Beneke trug Pantalons, lange Hosen aus schwarzem oder blauem Stoff. Der moderne, urbane Mensch trat einfach und geschmackvoll auf. Weniger wurde damals mehr.[19] Unter bestimmten Umständen nahm der Bürger die Frage des äußeren Auftritts außerordentlich ernst. Kleidung signalisierte Gesinnung. Beneke beharrte sogar unter kritischen Umständen auf seinem bürgerlichen Erscheinungsbild und neigte in jungen Jahren dazu, gepudertes Haar als Verrat an der Menschheit aufzufassen. Ein früher Förderer, Berliner Geheimrat, hatte ihm für Bewerbungen im preußischen Staatsdienst zu Konzessionen an den aristokratischen Stil geraten und kam damit schlecht an. Ferdinand fühlte sich im Gallakleide zum Staublecker entwürdigt.[20] Er war noch nicht 20, als er sich auf diesen radikalen modischen Standpunkt stellte. Das Galakleid blieb für ihn ein rotes Tuch und sicheres Indiz aristokratischer Gesinnung.
Der vornehme norddeutsche Bürger konnte Personen in bunter Tracht nicht mehr ganz ernst nehmen. Dem aufgeklärten Touristen Bartels war auf Sizilien schon aufgefallen, dass die Herren rote Beinkleider, blaue Röcke und gelbe Westen trugen – gleichzeitig. Er urteilte mit bürgerlicher Strenge. Das Papageienkostüm stand für eine gewisse kulturelle Rückständigkeit. Man kann daher, wie mich dünket, so Johann Heinrich Bartels, der Analytiker des Luxus und der Moden, den sichern Schluß zihen, daß wo diese Freude an bloßem geschmaklosen Scheine noch durchgängig zu finden ist, da herrschet auch durchgängig Mangel an Kultur und Roheit![21] Er war nicht der Einzige, der den immer diskreteren modischen Charme der Bourgeoisie zum Maß der zivilisatorischen Reife erklärte.
Andererseits ging man nicht in Sack und Asche, sondern konsultierte das Hamburger Journal der Moden und Eleganz, um auf dem Laufenden zu bleiben. Mit seinen Illustrationen zeigte es, wie man zum Ball oder zum eleganten Spaziergang auf dem Jungfernstieg zu erscheinen hatte.[22] Beim Diskurs über die Damenmode erlaubte sich die männliche Bürgerwelt allerdings manchmal eine gewisse Herablassung. So im Sommer 1808, als der große Ball zum Napoleonsfest bevorstand. Auch im Hause Bartels beschäftigte der elegante Auftritt die Gemüter – jedenfalls das von Gattin Marietta. Ihr Johann Heinrich war etwas nörgelig und schrieb in diesem Sinne ins biedere Bremen: Die Damen die nicht tanzen, tragen Schleppkleider. Die neueste Mode will, daß sie von Krepp oder anderm Zeuge mit einer Krepp Besezung seyn sollen. Seine Frau hatte ihm davon vorgeschwärmt, konnte den werten Gatten aber nicht ganz überzeugen. Ich verstehe nichts davon.[23] Hatte es gerade eine familiäre Meinungsverschiedenheit gegeben?
Geteilte Meinungen herrschten unter den aufgeklärten Geschäftsleuten im Senat über die Sinnhaftigkeit ihrer Amtstrachten: Riesenhüte, Spitzenkragen, schwere, schwarze Mäntel, in den Worten von Abendroth, ein lästiges Costume.[24] Er war offensichtlich der Meinung, dass Mode und Bekleidung praktischen Gesichtspunkten zu folgen hatten. Zumindest sollte ihr Träger im Stande sein, zu Fuß über die Straße zu gehen. Im Hamburger Amtstalar war das nicht möglich – wegen der Verschmutzungsgefahr und vielleicht auch, weil ein Senator im Ornat unter dem geschäftigen Straßenvolk der Metropole einen allzu barocken Anblick bot.
Jeder Senator war also wegen des unpraktischen Kostüms genötigt, Equipage zu halten,[25] so Abendroth, der befürchtete, dass sich die hohen Herren mit dieser Wichtigtuerei lächerlich machten. Im Straßengewühl amüsierten sich die benachteiligten Fußgänger nämlich gern über die Carosse des für das Vaterland denkenden Senators.[26] Die war erstens teuer, sehr teuer sogar – 3.000 Mark jährlich für ein Gefährt mit zwei Pferden und Kutscher[27] – und zweitens eigentlich überflüssig, weil es zum Rathaus, egal aus welcher Ecke der Stadt, zu Fuß keine 30 Minuten dauerte.
Aber die Republik wollte dann doch nicht auf ihr politisches Galakostüm verzichten. Zur Versammlung der Bürgerschaft im Herbst 1815 trugen die Senatoren wieder ihre alte Tracht – das erste Mal seit 1810. Unsicherheit obwaltete bei dieser Gelegenheit in der Perückenfrage. Dr. Beneke analysierte die Erscheinung: Die meisten Häupter trugen noch die volle (gefüllte) schneeweiße LockenSonnenBlume, – bey andren aber hatte diese schon die dicksten Blättlein fallen laßen, und bestand nur noch in einem, obwol Alpenweiß gepuderten, unten weltgeistlich gekrümmten, winzig dünnen PerückenZwerglein, – wieder andre hatten ihr Eigen Haar so frisirt, daß es wie fremdes aussah (‚Perücken im Geiste der Zeit‘ wie Prösch seine genannt) – die vier jüngsten aber, Hasse, Sillem, Benecke, und Schwartz, traten schon kühn im eignen, ungepuderten altdeutschen Haar hervor.[28]
Ob die jüngsten vier ihren kühnen Haarschnitt wirklich als altdeutsch empfanden, steht dahin. Johann Heinrich Bartels war 1798 nach seiner Senatswahl mit Tituskopf in den Kaffeehäusern aufgetaucht, einer modischen Kurzhaarfrisur von stürmischem Gesamteindruck, ursprünglich für die Pariser Bühne kreiert, und hatte damit römische Tugend und republikanischen Fortschritt für sich in Anspruch genommen. Vielleicht fanden die Herren Sillem und Co. es jetzt einfach nur praktisch, sich nicht pudern zu müssen. Beneke nahm es politisch, wenn auch humorvoll. Die Perücken wurden zum Synonym für die Ewiggestrigen - und das waren aus der Sicht der Altdeutschen, die Aufklärer des letzten Jahrhunderts. Die Mode konnte zur politischen Falle werden. Im Niederelbischen Merkur veröffentlichte er dazu eigens einen Beitrag.[29]
Doch schon gegen Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich die Ansichten wieder zu verschieben. Historische Kostümierung hatte erneut Konjunktur und manchem stand sie auch gut, Bürgermeister Bartels zum Beispiel. In seinem kleidsamen Ornate sah er aus wie ein schönes Bild von van Dyk,[30] meinte sein Schwiegersohn Louis Stromeyer, der Arzt. Dazu musste er aber erst einmal in den Ornat hineingewählt werden.
Das ist das Thema des folgenden Kapitels: Senatswahlen in Hamburg.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III a 2, Bartels an seinen Vater, o. D.
[2] StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Bartels an Abendroth, 6.7.1802.
[3] Abendroth’sche Lebenserinnerungen, S. 4.
[4] StAHH, Amt Ritzebüttel V Fach 3 Vol A Fasc 1, Sienen an Abendroth, 25.10.1810.
[5] StAHH, Senat Cl VII Lit Lb No 23a Vol 1 Bd 1 Dok 26, Axen an Bartels, 12.9.1816.
[6] StAHH, Familie Westphalen II A 4 Johann Ernst Friedrich Westphalen, empfangene Briefe 1797–1829, Unterakte Johann Heinrich Bartels, Bartels an Westphalen, 14.1.1813.
[7] Rist: Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 39.
[8] StAHH, Familie Voigt B 76 Unterakte 2, Westphalen an Abendroth, 2.5.1820.
[9] Beneke: Tagebücher, III/6, S. 443, Axen an Beneke, 29.7.1816.
[10] Beneke: Tagebücher, 19.1.1816; 27.8.1817.
[11] Hermanna Heineken an Beneke, 18.10.1815, Beneke: Tagebücher, Bd. III/6, S. 275.
[12] Mettlerkamp an Caroline Beneke, 10.3.1814, Beneke: Tagebücher, Bd. III/5, S. 207.
[13] Caroline an Ferdinand Beneke, 13.3.1814, Beneke: Tagebücher, Bd. III/5, S. 227.
[14] Ferdinand an Caroline Beneke, 16.3.1814, Beneke: Tagebücher, Bd. III/5, S. 243.
[15] Caroline an Ferdinand Beneke, 29.6.1813, Beneke: Tagebücher, Bd. III/4, S. 279 und 282.
[16] StAHH, Familie von Voght Caspar von Voght V 2, Abendroth an Voght, 26.6.1832.
[17] StAHH, Familie Voigt B 76 Unterakte 2, Abendroth an Bennigsen, 16.3.1814.
[18] Dirksen: Jahrhundert, S. 143.
[19] Beneke: Tagebücher, 6.6.1801.
[20] Beneke: Tagebücher, 10.5.1794.
[21] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 327.
[22] Aaslestad: Place, S. 155–170.
[23] StAB, 2 B 5 a 6 No 11, Bartels an Smidt, 2.8.1808.
[24] Abendroth: Wünsche, S. 38.
[25] Abendroth: Wünsche, S. 38.
[26] Minder: Briefe, S. 24.
[27] Rist: Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 126.
[28] Beneke: Tagebücher, 16.11.1815.
[29] Beneke: Tagebücher, 16.11.1815.
[30] Stromeyer: Erinnerungen, Bd. 2, S. 290.