Dies ist Teil 13 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung einer kleinen Republik 1790–1835. Die Aufklärung in Hamburg hat ihre eigene Homepage, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Im schattigen Park der Villa Negroni in Rom hatte Dr. Bartels Rousseau gelesen: Émile.[1] Das Buch war Pflichtlektüre für jeden Aufklärer. Er war dort möglicherweise auf einen Satz gestoßen, der jedem Großstädter zu denken geben musste. Die Städte sind der Abgrund des menschlichen Geschlechts,[2] war dort zu lesen.
Für diese etwas freudlose Behauptung gab es im 18. Jahrhundert gute Gründe. Schmutz, Seuchen und Armut sorgten in der durchschnittlichen europäischen Stadt für viel mehr Tote als Neugeborene. Das stimmte auch für Hamburg. Biologisch, ohne Zuwanderung also, schrumpfte die Stadt. Es breitete sich jedoch die Einsicht aus, dass dem nicht so sein musste und zu diesem Zweck entwickelten die Aufklärer der Republik ein umfassendes Programm kommunaler Verbesserungen.
Für den kommunalen Fortschritt – zumindest seine Vorbereitung – war in Hamburg die Patriotische Gesellschaft von 1765 zuständig. Sie war eine von etwa 60 derartigen Vereinigungen, die in Deutschland und der Schweiz zwischen 1760 und 1820 entstanden, und eine der bedeutendsten.[3] Ihren Sitz hatte sie seit 1805 in einem eigenen Gebäude, nicht weit entfernt vom Rathaus, an der Großen Johannisstraße, das sie sehr modern auf Aktienbasis gekauft hatte.[4] Im Sommer trafen sich die patriotischen Aktivisten aber lieber in einem schönen Garten an der Alster, der für seine amerikanischen Pflanzen bekannt war.[5] Patriotisch war die Gesellschaft im Sinne des fortschrittlichen 18. Jahrhunderts – so wie Claes Bartels der alte Patriot genannt wurde, weil er unermüdlich für praktische Reformen und Verbesserungen aktiv war.
Mit nationalem Überschwang hatte das nichts zu tun. Der kam in der Republik erst nach 1800 auf, und die Patriotische Gesellschaft hielt von dieser Sorte Patriotismus gar nichts. Sie hieß offiziell Hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe. Die Titulatur war etwas länglich, enthielt aber eine klare Definition ihrer Mission: Wirtschafts- und Gewerbeförderung – bei angemessener Berücksichtigung des Schönen und des Guten. Und so beschäftigte sie sich mit Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik, Versicherungen, Sparkassen, Dampfmaschinen, Berufsschulen und der Kohle als Energieträger der Zukunft. Die war vorzugsweise in technisch ausgereiften Sparöfen zu verbrennen.[6] Das war kein Zufall. Eine der Gründungsschriften der Gesellschaft war der Commerzdeputation gewidmet, der Interessenvertretung des städtischen Großhandels. Ihr Autor, Johann Ulrich Pauli, kam gleich auf Seite eins zur Sache. Es ging ganz konkret um die Frage: Auf welche Weise man den Menschen am nützlichsten seyn könne?[7] Mit revolutionärem Patriotismus im französischen Stil hatte das ebenso wenig gemein wie mit neudeutscher Nationalität.
Die Patriotische Gesellschaft war also ein ökonomisches Institut, ihre Hauptabsicht der Flor unsrer Gewerbe,[8] ihr Ziel Verbesserung, nicht Revolution. So setzte das ökonomisch gestimmte 18. Jahrhundert seine Prioritäten. Den Gedanken der wirtschaftlichen Blüte vergaß der aufgeklärte Hamburger Bürger auch auf Reisen nicht. Bartels versuchte sich auf Dutzenden von Seiten seiner Reisebeschreibung an einer Art volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung für das Königreich Sizilien.[9] Er studierte Quellen, befragte seine Gewährsleute, nahm die verfügbaren Daten, verglich sie, extrapolierte sie, rechnete den Einzelfall unter Zuhilfenahme der Wahrscheinlichkeit in den allgemeinen Fall um und taxierte so das produktive Landvermögen der Insel auf 400 Millionen Taler. Er war tief befriedigt, dass er damit eines der großen Geheimnisse des Staates enthüllt hatte. Aber die Rechnerei ging weiter, jetzt wurde es erst wirklich interessant. Die Kapitalrendite für Landbesitz wurde üblicherweise mit 2 Prozent angegeben – nicht eben viel. Gab es Möglichkeiten zur Verbesserung? Unbedingt, Bartels hielt 5 Prozent für machbar, vorausgesetzt Staat und Eigentümer würden ihre Güter nach den neuesten Grundsätzen der Ökonomie bewirtschaften.[10] Es lag am fehlenden Willen und am fehlenden Können. Das Land war im Stande, viel mehr zu produzieren, seine nachlässigen Eigentümer wussten nur nicht wie. Daß doch die Regirung einmal, mit ihrem Zauberstabe, gleich jenem Propheten in der biblischen Geschichte, dort an den dürren Felsen der Unkultur schlüge, es würde sich gewis ein fruchtbarer Strom ergießen, und Siziliens Wüsteneien zum irdischen Paradise, zum Kanaan, wo Milch und Honig flißet, umschaffen![11]
Eben das sollte in Hamburg die Patriotische Gesellschaft leisten: Entwicklung und Ausschöpfung ökonomischer Potenziale. Darüber korrespondierte Bartels mit seinem Freund Dr. Friedrich Johann Lorenz Meyer, dem zukünftigen Präsidenten der Gesellschaft. Ihn versorgte er mit Beispielen erfolgreicher, unterlassener oder fehlgeschlagener Projekte wirtschaftlicher Reform, die in Italien in großer Menge zu besichtigen waren. Mehr Wohlstand also durch Verbesserung, Förderung und Veredelung der gewerblichen und agrarischen Produktion.
Erstaunlicherweise sollte das alles im Rahmen einer Wirtschaft des Gemeinwohls funktionieren, die den privaten Gewinn nicht in den Mittelpunkt stellte. Die von den Gewerbeförderern erdachten und betriebenen Versicherungs- und Spargesellschaften arbeiteten nicht auf Profitbasis. Ihre Vorstände bezogen kein Gehalt und die Anforderungen an das öffentliche Engagement waren hoch. Geldgier galt als Feind des Gemeinwohls, vom mislichen und schädlichen Gewinst[12] war die Rede. Der Italienreisende Bartels schrieb über Gewinnsucht, sie bestehe nun in wirklicher Bereicherung oder in Herrschsucht oder Erwerbung anderer Bequemlichkeiten.[13] Er missbilligte beides. Besonders die jüngeren Mitglieder der Gesellschaft fanden manchmal, dass zu viel Reichtum dem Gemeinsinn nicht bekömmlich sei. Das konnte sich humoristisch äußern, Kommerzhammel und Comtoirmogul nannte Ferdinand Beneke den schwerreichen Altonaer Kaufmann Georg Friedrich Baur, ließ sich aber durch seine menschlichen Qualitäten etwas beruhigen, er sei immerhin eine ehrliche Haut voll Louisd’orflecken![14] Der Patriotischen Gesellschaft ging es um Fortschritt und Humanität. Die propagierte sie in Forschungsaufgaben, Gesundheitstraktaten und Gewerbeausstellungen, setzte Prämien aus und vergab Ehrenmedaillen.
Die Patriotische Gesellschaft war nicht unpolitisch. Sie wollte eine Einrichtung der bürgerlichen Gleichheit sein. Bei allen Versamlungen, sowol der Gesellschaft als der Vorsteher, wird kein Vorzug nach Rang beobachtet, sondern überhaupt alles durch Mehrheit der Stimmen entschieden, der sich sowohl die Gegenwärtigen als Abwesenden gänzlich unterwerfen.[15] Sie war eine Unternehmung der reformierenden Zivilgesellschaft, die das Gemeinwohl gern durch mathematische Operationen ermittelte. Nur die Mehrheit zählte.
Gleichzeitig stand sie dem politischen Machtzentrum nahe. Opposition war keine gute Idee.[16] Es ging um die einmüthige Erwägung des allgemeinen Besten.[17] Dr. Meyer sprach vom besonderen Bürgersinn, der sich in der Patriotischen Gesellschaft zeigte. Nie befleckte ihn irgend ein, auch nur entfernter, Gedanke, der den Geist der Factionen athmete, oder weit aussehende politische Plane verrieth. Aus unsern Versamlungen ist jeder Hader des Partheigeistes und der Rechthaberei verbannt.[18] Die alte Idee der bürgerlichen Eintracht stand jetzt im Zeichen von Reform und Fortschritt. Wie sehr diese Richtung das Bestehende in Frage stellte, merkten die Freunde des Althergebrachten nicht sogleich. Es sollte noch eine Weile dauern, bis die Republik anfing, sich vor Neuerungssucht zu gruseln. Allerdings kamen Spaßvögel schon einmal auf ihre Kosten, die dem Institut ein bisschen Wichtigtuerei und viel Daniel-Düsentrieb-Mentalität unterstellten. In der Stadt hatte sich 1794 das liebevoll geförderte Gerücht verbreitet, die Gesellschaft wolle denjenigen durch eine Prämie belohnen, dem es gelingen würde, trockenen Fußes die Alster zu überqueren. Natürlich fiel der Kandidat ins Wasser – zur großen Genugtuung des schadenfrohen Publikums. Die Gewerbeförderer waren offiziell entrüstet und erklärten wortreich, diesen plumpen Scherz durch Nichtachtung strafen zu wollen.[19] Für die Humorlosigkeit bestand aber eigentlich kein Anlass, denn die Gesellschaft hatte außerordentlichen Erfolg.
Der Senat wählte viele seiner Mitglieder aus den Reihen der Patriotischen Gesellschaft. Vielleicht kann man auch sagen, dass sie ihre Mitglieder gern zur Wahl empfahl. Siehe die Aktivitäten Dr. Meyers. Ein Gruppenbild im Ratssaal Ende des 18. Jahrhunderts hätte lauter moderne Patrioten und Gewerbeförderer in allerdings altertümlichen Talaren und Spitzenkragen gezeigt.[20] 1790 organisierte sich die Patriotische Gesellschaft neu: Bessere Führung, größere Teilnahme und mehr Transparenz waren das Ziel, mehr Publicität, mehr Solennität, und mehr Präcision in Betreibung der Geschäfte, wie Johann Arnold Günther es ausdrückte, der die neue Verfassung der Gesellschaft entworfen hatte.[21]
Der Erfolg war groß. Die Zahl der Mitglieder stieg von 142 im Jahr 1789 auf fast 500 fünfzehn Jahre später: Zehn Bürgermeister, Senatoren und Syndizi traten innerhalb eines einzigen Jahres bei.[22] Zwischen 1765 und 1792 gehörten über die Hälfte der neu gewählten Senatsmitglieder zur Patriotischen Gesellschaft.[23] Zivilgesellschaft und Politik lagen in der Hamburger Republik sehr nahe beieinander. Die Aufklärung hatte eine solide Personalbasis und die Nähe von Politik und bürgerlicher Initiative war kein Zufall. Die Patriotische Gesellschaft funktionierte als Versuchslabor, in dem neue Formen des Wirtschaftens und der politischen Ökonomie experimentell getestet werden konnten, bevor sie in Senat und Bürgerschaft in offizielle Politik gegossen wurden. Hamburg erlebte die hohe Zeit nützlicher Reform.
1790 wurde Friedrich Johann Lorenz Meyer, eben Dr. Meyer, Sekretär und Geschäftsführer der Patriotischen Gesellschaft. Manche nannten ihn auch Domherr Meyer, was zwar sachlich korrekt, aber auch geeignet war, einen vollkommen falschen Eindruck zu erwecken.[24] Er war ein lebensfroher Mensch. Das zeigte sich im Oktober 1800 beim Besuch von Lord Nelson und Lady Hamilton. Dr. Meyer, zuständig für das Unterhaltungsprogramm, war in seinem Element, wobei die erotischen Attraktionen der Dame eine gewisse Rolle spielten. Letztrer – schrieb Ferdinand Beneke – treibt sich jetzt mit Admiral Nelson, und Hamiltons herum …, der eigentliche Magnet für Meyer ist Lady Hamilton, bey deren Schilderung er ganz in Extase gerieth. Sie soll sehr schön, und sehr liebenswürdig seyn, wie Meyer sagt, ein Meister Stück der Natur und der Kunst zugleich.[25] Reizvoll verschleiert stellte sie antike Statuen nach. Tableaux vivants nannten Kenner das und waren begeistert.
Der allgegenwärtige Dr. Meyer wurde für die nächsten Jahrzehnte zum führenden Aktivisten aufgeklärter Reform in Hamburg. Er warb Freunde und Bekannte an, leitete die Versammlungen und schrieb unermüdlich Protokolle und Memoranden. 1795 trat Amandus Augustus Abendroth ein,[26] auch Johann Georg Mönckeberg, Johann Jakob Rambach und Georg Elert Bieber schlossen sich an.[27] Von allen wird noch ausführlich die Rede sein.
Im Februar 1797 wurde Beneke aufgenommen – und stellte sich mit einem Eklat vor. Er legte sich sofort mit der Führung an. Als echter Republikaner erwartete er von sich selbst das offene Wort und sprach es auch aus. Für die Industrieschule von Christian Ohrt verlangte er eine Förderung durch die Gesellschaft. Johann Arnold Günther und Dr. Meyer sperrten sich. Die Oligarchie der Gesellschaft, schrieb Beneke in sein Tagebuch, zeigte sich stark. Senator Günther … an der Spitze. ich freymüthig dagegen. Rambach – das war sein Freund Jacob, der Arzt, auf den in solchen Fällen Verlass war – unterstützte mich. Es ward gestimmt, und die Oligarchenparthey ward mit zehn Stimmen überstimt. O wenn bey solchen Fällen nur Einer freymüthig spricht, so siegt gewiß immer Wahrheit im Kampfe mit bloßen Schein= Pracht= und Schwachheits=gründen. Dr. Meyer zeigte sich hierbey schwach. … Dr. Renzel … erbärmlich (des Hrn. Senators Meinung!).[28] Rechtsanwalt Dr. Eduard Rentzel, auch er noch auf der Suche nach einer lukrativen Karriere, hatte sich offensichtlich einmal so richtig bei Senator Günther einschmeicheln wollen und kam damit beim republikanischen Puristen Beneke schlecht an. Die Opposition hatte Erfolg. Ohrt wurde als Assoziierter aufgenommen und erhielt für seine Schule einen Zuschuss.[29]
Derweil rückte Abendroth in die Führung der Patriotischen Gesellschaft auf. Einige Jahre war er Sekretär für die auswärtige Korrespondenz, nach Meyer zweitwichtigster Mann und sein Vertreter.[30] Da die Verwaltungen des, den Vortrag besorgenden Secretairs der Gesellschaft, teilte Dr. Meyer im Frühjahr 1798 in seiner etwas peniblen, aber zielstrebigen Art mit, sich zeither ansehnlich vermehrt haben, ist, um auch in dessen etwanigen Abwesenheiten, keinen Stillstand der Verhandlungen Statt finden zu lassen, Herr D r. A b e n d r o t h von der Gesellschaft ersucht worden, alsdann die Geschäfte des vortragenden Secretairs zu verwalten, wozu er sich bereitwillig erklärt und für jetzt die Besorgung der a u s w ä r t i g e n C o r r e s p o n d e n z übernommen hat.[31] Um diese Zeit suchte die Gesellschaft direkten Kontakt mit Matthew Boulton und James Watt, den Dampfmaschinenunternehmern in England.[32] In Hamburg sollten diese revolutionären Apparate für die Wasserversorgung der Neustadt, eines der Lieblingsprojekte Abendroths, eingesetzt werden. Zu teuer werden durfte das aber auch nicht. Angefordert wurden Kostenvoranschläge für die Maschinen, um die Realisierungschancen der Projekte besser einschätzen zu können. Bei Boulton hätte sie gleich noch über ein anderes, in Hamburg gerade aktuelles Thema lernen können. Er hatte in seinen Fabriken eine Sozialversicherung eingeführt.
Anfang 1801 allerdings trat Abendroth schon wieder als Sekretär zurück, vielleicht wegen Arbeitsüberlastung durch seine Senatswahl einige Monate zuvor. Zu seinem Nachfolger wählte die Gesellschaft Ferdinand Beneke. Der wunderte sich: Woher dies blinde Zutrauen ohne Beweise?[33] Ein paar Jahre später sollte es an der Patriotischen Gesellschaft sein, sich darüber zu wundern, wie sie einen solchen Fehler hatte machen können.
Schuld hatten die veränderten Zeitläufte. 1811 war die Hamburger Republik im französischen Kaiserreich aufgegangen. Die Patriotische Gesellschaft tat das ihrige, um dieser politischen und zivilisatorischen Fusion zum Erfolg zu verhelfen. 1810 ernannte sie Charles de Villers, Autor, Offizier und Kantkenner mit guten Hamburger Verbindungen, zum Ehrenmitglied. Er hatte viel für die deutsch-französische Verständigung getan. Den Pariser Gelehrten Georges Cuvier und François Noël und dem Präfekten des neuen Departements Bouches de l’Elbe, Patrice de Coninck-Outrive, überreichte sie Assoziiertendiplome. Die Pariser Zentrale zeigte sich erkenntlich. Der Innenminister ließ 1.000 Francs zur gemeinnützigen Verwendung an die Gesellschaft auszahlen.[34]
Dr. Meyer übte sich jetzt im hohen imperialen Ton. Nötig war das insbesondere, wenn man sich direkt an die französischen Exzellenzen wandte, um ihnen die Gesellschaft zu empfehlen. Napoleon der Erste, unser großer Monarch, liebt und schätzt, wie wir alle wissen … vor allen Societäten solche, wie die unsrige ist, die nicht bloß spekulatives Theoretisieren, sondern gemeinnützige Tat zum reinsten, unmittelbaren Zweck ihrer Bemühungen nehmen und diesen Zweck verfolgen.[35] Das trugen Meyer und eine offizielle Deputation vor und wiesen stolz auf die – wunderbarer Begriff – neueren Polizei- und Humanitätsanstalten[36] der Gesellschaft hin: die Allgemeine Versorgungsanstalt, die Kreditkasse für Erben und Grundstücke, die Rettungsanstalt für Ertrunkene und die technologisch-mathematische Lehranstalt für Handwerker und Fabrikanten. Schon im Januar, wenige Tage nach seiner Ankunft, sprach Dr. Meyer mit Staatsrat Louis-Joseph Faure, der in Hamburg die Einführung des Code Napoléon organisieren sollte.[37] Die Gesellschaft verlor keine Zeit.
Das Kaiserreich war eine Einrichtung der bürgerlichen Verbesserung und Reform – nicht nur, aber auch. Dr. Meyer war entschlossen, die Patriotische Gesellschaft in diesem Rahmen zu etablieren. Maire-Bürgermeister Abendroth, 1811 von Napoleon eingesetzt, unterstützte ihn dabei nach Kräften. Er stellte sie der Pariser Administration als ein Institut des Fortschritts, der gesellschaftlichen Verbesserung und der gesetzlichen Ordnung vor. In einem Rapport an den Minister … habe ich von der Gesellschaft folgendes gesagt: Diese Gesellschaft ist … eine freiwillige Vereinigung mehrerer Bürger, die, mit Genehmigung des Gouvernements, sich dort beschäftigt, alles einzuleiten und zu befördern, was auf das Wohl der Bürger Einfluss hat. Sie ermuntert den Ackerbau in allen seinen Branchen, setzt Preise aus zur Aufklärung zweifelhafter Materien, unterstützt junge Leute zu ihrer Bildung, die besondere Hoffnung geben für die Kultur, Architektur und Künste. Sie hat auf ihre Kosten mehrere Zeichenschulen, besonders für Handwerker angelegt; sie befördert die Kultur der Wissenschaften, insofern diese die nützlichen Gewerbe verbessern und vervollkommnen. Sie umfasst alle Teile des Wissens, die einen unmittelbaren Nutzen für die bürgerliche Gesellschaft haben.[38] Der Maire-Bürgermeister ließ kein Schlüsselwort des Zeitalters der Verbesserung aus und kam dann auch noch auf die oben schon angeführten neueren Polizei- und Humanitätsanstalten zu sprechen. Beim Fortschritt aber sollte man sich bitte etwas beeilen. Typisch Abendroth, er ermahnte die gemeinnützigen, aber redseligen Patrioten mit seinen Schreiben aus der Hauptstadt, der guten Sache doch bitte einen etwas rascheren Schwung zu geben.[39]
Die zivilisatorische Fusion in raschem Schwung hatte Dr. Beneke gerade noch gefehlt. Mittlerweile deutsch, national und christlich geworden, trat er aus der Patriotischen Gesellschaft aus und ärgerte sich über den kooperativen Dr. Meyer.[40] 1808 tauchte er noch ab und zu auf.[41] Dann wurde er unversöhnlich – trotz Friedensangeboten der Gesellschaft. Gelegenheit dazu bot die Feier zu ihrem 50. Jubiläum 1815. Mittlerweile war auch das Französische Kaiserreich schon wieder Geschichte. Meyer nutzte die Chance, den neudeutschen Patrioten die Hand zur Versöhnung zu reichen. Es gab Medaillen, auch für vaterländisch engagierte Damen. Aber das war Heuchelei, so sah Beneke das: Seit des seligen Rambach offnem Bruch mit dem Regierer dieser Gesellschaft Dr. Meyer blieb auch ich mit ihm zerfallen, und da mir seine ‚Schönfärbereyen‘ immer mehr mißfielen, und mich bey der damaligen großen politischen Zeit die KleinigkeitsKrämereyen, und EitelkeitsSpiele der Gesellschaft anekelten, so schied ich … gänzlich heraus, und blieb fern von den nachmaligen Buhlereyen, und Gemeinmachungen dieses Instituts mit den Franzosen. Heute Vormittag hatte nun dieser ehemalige Franzosen Schranze die vormals von ihm so sogenannten ‚Verblendungen kranker Gehirne usw.‘ – das bezog Beneke auf sich und seine Freunde – als patriotische Handlungen in einer Rede gerühmt, und sie vonseiten der Gesellschaft … mit Medaillen usw. belohnt.[42] Dr. Beneke, der Kritiker der rationalen Moderne, steigerte sich in einen Wutanfall.
Allerdings hätte man es auch dem vernünftigen Dr. Meyer nicht ohne Weiteres zugetraut, dass er den christlichen Nationalpatriotismus als Verblendung kranker Gehirne attackieren würde. In seinem umfangreichen Schrifttum kam das nicht vor, es blieb der mündlichen Kommunikation vorbehalten. Der Patriotischen Gesellschaft passierte das, was dem ganzen Gemeinwesen bevorstand: Ein tiefer ideologischer Graben zwischen Aufklärern und Nationalrevolutionären tat sich auf. Das änderte aber nichts daran, dass sie mit ihrem Programm der Reform große Erfolge erzielte.
Und mit diesem Programm geht es in den folgenden Kapiteln weiter.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III e 1 b, Tagebuch, 30.4.1786.
[2] Zitiert nach Glaeser: Triumph, S. 247.
[3] Kopitzsch: Grundzüge, Tl. 1, S. 347.
[4] Verhandlungen und Schriften, Bd. 7 (1807), S. 96.
[5] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 428–434; Heß: Hamburg, Teil 1, S. 438f.
[6] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), Vorbericht.
[7] Pauli: Patrioten, S. 1.
[8] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 5.
[9] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 735–793.
[10] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 748–751.
[11] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 751.
[12] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 10.
[13] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 16.
[14] Beneke: Tagebücher, 4.8.1797, 5.8.1797.
[15] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), Vorbericht.
[16] So auch Franklin Kopitzsch generell über Gesellschaften dieses Typs: Grundzüge, Tl. 1, S. 348f.
[17] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 10.
[18] Verhandlungen und Schriften, Bd. 3 (1795), S. 9.
[19] Verhandlungen und Schriften, Bd. 4 (1797), S. 118.
[20] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 19–27.
[21] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 29.
[22] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 98.
[23] Kopitzsch: Grundzüge, Tl. 1, S. 350; zur Beitrittswelle um 1790 Kopitzsch: Grundzüge, Tl. 2, S. 540–543 und Kopitzsch: Modernisierungstendenzen, S. 215f.
[24] Die gekaufte Stelle im – übrigens protestantischen – Domkapitel diente der finanziellen Versorgung ihres Inhabers und hatte keine geistlichen Funktionen. Auch das typisches 18. Jahrhundert.
[25] Beneke: Tagebücher, 24.10.1800.
[26] Verhandlungen und Schriften, Bd. 5 (1799), S. 61.
[27] Verhandlungen und Schriften, Bd. 5 (1799), S. 4f.
[28] Beneke: Tagebücher, 29.6.1797.
[29] Verhandlungen und Schriften, Bd. 6 (1801), S. 26f, S. 68 und S. 108.
[30] Verhandlungen und Schriften, Bd. 6 (1801), S. 3.
[31] Verhandlungen und Schriften, Bd. 6 (1801) S. 80.
[32] Verhandlungen und Schriften, Bd. 6 (1801), S. 102.
[33] Beneke: Tagebücher, 27.2.1801.
[34] Kowalewski: Aufgaben, S. 1–3 und S. 80.
[35] Zitiert nach Kowalewski: Aufgaben, S. 2.
[36] Zitiert nach Kowalewski: Aufgaben, S. 4.
[37] Kowalewski: Aufgaben, S. 6.
[38] Abendroth an F. J. L. Meyer, den Geschäftsführer der Gesellschaft, zitiert nach Kowalewski: Aufgaben, S. 10.
[39] Zitiert nach Kowalewski: Aufgaben, S. 10.
[40] Beneke: Tagebücher, 28.3.1811.
[41] Beneke: Tagebücher, 22.6.1808.
[42] Beneke: Tagebücher, 10.10.1815.