Dies ist Teil 20 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung einer kleinen Republik 1790–1835. Die Aufklärung in Hamburg hat ihre eigene Homepage, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Die neue Sozialpolitik der Republik geriet schon bald in Streit mit den milden Stiftungen. Diese autonomen Einrichtungen der Wohltätigkeit, die auf testamentarischen Zuwendungen beruhten, versorgten im alten Hamburg die Armen und Schwachen der Gemeinde. Von ihnen gab es Hunderte, darunter welche von ganz eigener Art. Schon damals waren sie Teil der Hamburger Folklore. Aus Margaretha Tiegke, einer Wasserträgerin Testament, erhalten etliche alte Wäscherinnen jährlich 1 Mark 8 Schilling. Aus einem Vermächtnisse des Bürgermeisters Erich von Zeven, vom Jahre 1421, werden jährlich einige alte Jungfern ausgesteuert.[1] Aber der Armenanstalt war Margaretha Tiegke egal, ihr kam es auf die großen Drei an: den Krankenhof in St. Pauli vor den Toren der Stadt, das Werk- und Armenhaus an der Binnenalster und das Waisenhaus an der Admiralitätsstraße. Sie versorgten rund 3.000 Menschen, immerhin 3% der Stadtbevölkerung, und gaben dafür pro Jahr über 500.000 Mark aus, mehr als die Armenanstalt in ihrem Rekordjahr 1809.
Sie verfügten über erhebliche Vermögen, hatten aber alle ihre altersbedingten Probleme, ihre Gründung lag schon Jahrhunderte zurück: Der Krankenhof wusste nicht so recht, ob er ein Krankenhaus oder ein Altenheim sein wollte, nachts gab es nicht einmal einen Arzt; das Werk- und Armenhaus war Gefängnis, Fabrik und Obdachlosenasyl in einem, auch keine ideale Kombination; das Waisenhaus versuchte immer wieder, nach den Grundsätzen der alten Moral die Aufnahme von unehelichen Kindern zu blockieren, hatte sich aber einen außerordentlich kostspieligen Neubau gegönnt. Und alle drei hatten ein Problem mit der Armenanstalt. Da auch sie sich um die Versorgung von Kranken, Alten und Waisen kümmerte, gab es überall Überschneidungen. Deshalb schloss sie mit den Stiftungen Konventionen ab, die Zuständigkeiten und Finanzen regelten.
Das neue Institut der Sozialfürsorge verhielt sich dabei etwas forsch. Die Stiftungen jedenfalls sorgten sich um ihr Geld und kooperierten nur widerwillig und vorsichtig. Die Armenanstalt versuchte im Gegenzug, durch die Veröffentlichung der Konventionen Druck zu erzeugen, weil, so erklärte Senator Dr. Johann Heinrich Bartels vom Armenkollegium, hoffentlich diese Beispiele zur Nachahmung reizen und dadurch die noch zurückgebliebenen Stiftungen früher ihr Unrecht erkennen werden. Die würden sich, so sein Vorwurf, vorsätzlich einer Verbindung … entziehen, die sie nuzbarer fürs Ganze macht, und die das Publicum … zu verlangen ein Recht hat.[2] Der Widerstand aber war groß und es passierte nichts. Das Thema blieb ein Dauerbrenner der städtischen Sozialpolitik und ein paar Jahre später musste Bartels schon wieder nachdrücklich daran erinnern, dass in den izigen Zeiten keins der Institute dem andern Ausgaben zumuthen könne, die zu seiner Competenz nicht gehörten.[3] Die Stiftungen hielten sich weiter auffällig bedeckt.
Die Verärgerung war wechselseitig, denn aus Sicht des Waisenhauses mit seinem 2-Millionen-Vermögen zeichnete sich die Armenanstalt durch gute Absichten und ein verwegenes Finanzgebaren aus. Eine solide hamburgische Stiftung finanzierte sich, zumindest zu einem erheblichen Anteil, durch Zinseinnahmen aus ihrem Vermögen. Das konnte die Armenanstalt nicht von sich behaupten. Konsterniert hatte der Senat im Jahr 1800 den besorgten Bürgern berichtet, dass ihr Kapital auf ganze 132.000 Mark zusammengeschrumpft war, etwas peinlich im Gegensatz zum Waisenhaus.[4] Die Zinsen deckten gerade noch 1 Prozent der jährlichen Ausgaben. Die Armenanstalt hatte vor 1810 einen großen Teil ihres Vermögens für laufende Ausgaben mobilisiert, sozialpolitisch unvermeidlich angesichts der aufgeregten Zeiten, wie sie selbst fand; nicht sehr vorausschauend, nicht sehr haushälterisch, meinten andere. Am Ende musste der Senator Bartels auf die Vereinigung Hamburgs mit Frankreich warten. Erst das napoleonische Regime setzte die Zentralisierung der Sozialpolitik mit Energie durch.
Der Staat sollte die Stiftungen lenken und ihr Vermögen kontrollieren. Darauf war der Italienreisende Bartels schon in Florenz gekommen. Diese ehemalige Republik erfreute sich einer langen Geschichte bürgerlicher Wohltätigkeit. Im 18. Jahrhundert existierten 400 Jahre alte Stiftungen, die über erhebliches Vermögen verfügten. Ob dieses Kapital zweckmäßig zum Einsatz kam, war eine offene Frage. Die aufgeklärte Reformadministration des nunmehrigen Großherzogtums beantwortete sie mit einem klaren Nein. Faktisch folgte die Verstaatlichung der Stiftungen. Dr. Bartels applaudierte: Der Herzog sah, dass aus der Unabhängigkeit der Stiftungen vile Inkonvenienzen erwuchsen und nahm ihnen daher ihren Reichtum doch so daß er verordnete alles was sie ferner zur Beförderung ihrer so menschenfreundlichen Absichten gebrauchen würden solte der Staat bezahlen und so ist die Einrichtung izt noch.[5] Die Stiftungen mochten das wohl als stille Enteignung betrachten. Bartels hatte nichts dagegen, solange es dem Gemeinwohl diente. Allerdings wurde dadurch der bürgerlich-heilige Grundsatz des Eigentums in Frage gestellt und fallweise war zu erörtern, ob überhaupt Stiftungsstatuten geändert werden durften. Keine Behörde darf sich Aenderungen in dem Willen eines Testators erlauben, kommentierte 1814 Senator Amandus Augustus Abendroth, fügte jedoch hinzu: wenn dessen Dispositionen nicht etwa dem Staat nachtheilig sind.[6] Damit aber war die Tür für den Staat geöffnet, dem es höchst wichtig ist, zu wissen, wie die frommen Stiftungen bestehen, und was für sie geschehen muß.[7] Und der möglicherweise auch besser wusste, was für sie zu geschehen hatte.
Diese Fragen stellten sich nicht nur in Florenz am Arno, sondern auch in Cuxhaven an der Elbe. Dort gab es die Nicolai-Brüderschaft, Inhaberin von Grundstücken und anderweitigem Vermögen. Sie war alt, stammte aus dem 15. Jahrhundert, und so war es nicht ganz überraschend, dass ihre Ziele und Aufgaben etwas aus der Zeit gefallen wirkten. Gestiftet worden war sie, Abendroth hatte einen Blick in die Originaldokumente geworfen, zur Ehre des allmächtigen Gottes und seiner gebenedeyeten Mutter Maria, und zur Ehre St. Nicolaus, Patroni daselbst, zur Hülfe und zum Trost aller Christen-Seelen.[8] Das war nach den Maßstäben der neuen Zeit etwas unrealistisch. Sie hat also einen sehr weiten Wirkungskreis, amüsierte sich der Freigeist und Gouverneur. Prompt schränkte er ihren Wirkungskreis ein. Auf dem Grundstück und mit dem Kapital der Brüderschaft gründete er 1818 das Ritzebütteler Armenhaus. Er tat genau das, was der aufgeklärte Großherzog der Toskana getan und Freund Bartels dort sehr bewundert hatte. Auf dem dieser Brüderschaft gehörigen Grunde, und mit Anwendung eines Theils ihres Fonds, der anderweitig vergrößert wird, wird das Nicolai-Armenhaus gebauet zur Verpflegung der Hülflosen, zur Beschäftigung der Arbeitslosen, zur Heilung der Kranken,[9] Aufgaben, die deutlich greifbarer und erfolgversprechender waren als der Trost der Christenseelen.
Analog sollte Hamburg seine Zentraladministration der milden Stiftungen bekommen. Die französische Verwaltung erreichte das 1811 schnell und ohne Zögern. Chef der neuen Commission des Hospices, also Finanzkontrolleur der Stiftungen, wurde – Ex-Sozialsenator Dr. Bartels. Nach dem Ende der Réunion verteidigte er diese Einrichtung, denn sie führte ein so gewieriges Resultat herbei, daß schon im ersten Jahr der von der öffentlichen Casse geforderte, Zuschuß um mehr als den zehnten Theil vermindert werden konnte, statt 456.000 Mark forderte man 48.000 Mark weniger im zweiten Jahre, eine Ersparung, die … lediglich durch die Vereinigung selbst, und dadurch bewirkt ward, daß die Casse nicht in den Händen der Verwalter blieb, sondern die Zahlungen nur durch Anweisungen der Central-Commission auf die Casse beschafft werden konnten.[10] Aber Sparsamkeit und Effizienz gehörten ja auch in einer Republik zu den erfreulichen Erscheinungen und deshalb wurde die Commission des Hospices auch nach dem Ende der Union mit dem Kaiserreich erst einmal beibehalten.[11] Die Begründung lieferte Dr. Bartels gleich mit: Daß so etwas – die Autonomie der milden Stiftungen nämlich und die unkoordinierte und unkontrollierte Sozialpolitik der alten Republik – den richtigen Grundsätzen der Staatsverwaltung und hauptsächlich auch dem Geist der Zeiten widerspricht, braucht kaum ausgeführt zu werden. Allenthalben, wo solche status in statu waren, hat man diese aufgehoben und die Privilegien der geistlichen Stiftungen ihnen entweder abgenommen oder diese sehr beschränkt. Hamburg darf um so weniger zurückbleiben, da die Stimmung der Bürgerschaft sich schon oft gegen diese Sache laut ausgesprochen hat … Jeder Bürger im Staat muß gleiche Rechte genießen und gleiche Lasten tragen. Ausnahmen von dieser Regel sind immer Mißbräuche und sind nachteilig für die gute Ordnung und für die Finanzen.[12] Mehr Aufklärung war schwer möglich.
Aber aus der großen Zentralisierung wurde nichts. Die Autonomie der Stiftungen lebte 1814 wieder auf, als wäre nichts gewesen, obwohl Senator Bartels einen Gesetzentwurf für eine Zentraladministration im Senat einbrachte. Er wurde dabei auch von der 20-er-Kommission unterstützt, die 1814 im Auftrag von Senat und Bürgerschaft an der Generalüberholung von Verfassung und Verwaltung der Republik arbeitete.[13] Auch eine Alternative des Kollegen Abendroth blieb auf der Strecke. Der hatte 1814 gefordert, die Budgets der milden Stiftungen komplett dem Haushalt der Republik, also dem Votum der Bürgerschaft, zu unterwerfen: Müssen Kirchen und Hospitäler Zuschuß haben, so darf dies nur in Folge ihrer dem Staatsbudget beyzulegenden Budgets seyn, nachdem diese selbst von den Behörden revidirt und approbirt sind.[14] Das unterschied sich im Prinzip nicht sehr von der Zentraladministration. Aber genau diesen Punkt operierte die Bürgerschaft aus der Senatsvorlage zur großen Finanzreform im September 1814 heraus.[15] Später versagte auch noch das Archiv. Der Text seines alten Entwurfs war verschwunden, als Bürgermeister Bartels 1833 das Projekt durch einen Beitrag in den Vaterstädtischen Blättern reanimieren wollte. Die Tradition war zu stark und 1835 musste er feststellen, dass die Zentraladministration immer noch zu den piis desideriis,[16] den frommen Wünschen aller Aufklärer und Verbesserer zählte. Zu viel Zentrale passte nicht zur politischen Kultur der Bürgerrepublik. Die Konservativen waren dagegen. O wehe ihr Schulen und Kirchen, wenn der Staat Herr über eure Capitalien würde,[17] schrieb Oberaltenpräses Johann Caspar Gläser 1817 und sprach damit für eine Mehrheit der Bürger. Die milden Stiftungen erfreuten sich weiterhin bester Gesundheit.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 326.
[2] StAHH, Allg. Armenanstalt I 3.
[3] StAHH, Senat Cl VII Lit Qa No 3 Vol 12 Fasc 38c, Schreiben Bartels’ an die Krankenhofverwaltung, 31.5.1805.
[4] Kühl: Rath- und Bürger-Schlüsse, S. 217. Das hing allerdings auch maßgeblich mit dem Bau des teuren Schulgebäudes zusammen. Vgl. Voght: Gesammeltes, S. 57.
[5] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III e 1 b, Tagebuch, 7.2.1786.
[6] Abendroth: Wünsche, S. 93.
[7] Abendroth: Wünsche, S. 93.
[8] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 58.
[9] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 59.
[10] Bartels: Abhandlungen, S. 378.
[11] Bolland: Verhandlungen, S. 129.
[12] Zitiert nach Bolland: Verhandlungen, S. 129f.
[13] StAHH, Familie Beneke Ferdinand Beneke C 11, Bartels an Beneke, 16.3.1833.
[14] Abendroth: Wünsche, S. 103.
[15] Gallois: Geschichte, Bd. 3, S. 41.
[16] Bartels: Abhandlungen, S. 378.
[17] StAHH, Familie Beneke Ferdinand Beneke C 11, Memorandum Johann Caspar Gläsers über das Protokoll der Zwanziger, 1817.