Alle Leistungen der aufgeklärten Hamburger Sozialpolitik, vom subventionierten Schulbesuch bis zum Krankengeld, hatten das Ziel, die Menschen bei der Entfaltung ihrer Arbeitskraft zu fördern – oder sie dazu zu zwingen. Das hatte wirtschaftliche Gründe, aber ein anspruchsvoller philosophischer Überbau setzte besondere Akzente. Die Praxis hingegen ernüchterte.
Dies ist Teil 23 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung einer kleinen Republik 1790–1835. Die Aufklärung in Hamburg hat ihre eigene Homepage, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Arbeit macht den Menschen zum Menschen, in der Arbeit entfaltet er seine Kraft, durch die Arbeit findet er seine Selbstständigkeit. Arbeit macht auch schön – glaubte jedenfalls Johann Heinrich Bartels, der sich über die Hässlichkeit der niederen Klassen im eigentlich doch so schönen Italien wunderte. Im prosperierenden Städtchen Terranova auf Sizilien kam er auf die Lösung dieser rätselhaften Erscheinung. Hier herrschete Arbeitsamkeit, und Leben, – und verbannet war jene frappante Häßlichkeit.[1]
Arbeit in Schönheit. Das war das äußere Zeichen eines Gesellschaftsvertrags, bei dem es nicht nur um bloßen Fleiß ging. Dieser Vertrag basierte auf Arbeit, enthielt in seinem Kern aber viel mehr: Solidarität und gegenseitige Hilfe nämlich, die die Menschen im Zustand der Gesellschaft miteinander verbanden und den Naturzustand des Kampfes aller gegen alle beendeten. So bringet gewönete Tätigkeit die Menschen immer einander näher, schrieb Dr. Bartels, und leret sie den Hauptzwek ihres Daseins, einer den andern zu unterstüzen, erfüllen: Trägheit hingegen entfernet sie immer weiter von einander, und erzeuget eine gewisse Gleichgültigkeit, die jedes menschliche Glük untergräbet![2] Eine schöne Idee. Arbeit hatte also nichts mit Ausbeutung und Unterdrückung zu tun, sondern kennzeichnete eine Gesellschaft, die ihre Solidarität in gegenseitiger Hilfe ausdrückte.
Arbeit entfremdete nicht, im Gegenteil, sie erzeugte Erfüllung und Glück. Sie war ein prägender Bestandteil der Humanität. Ein praktischer Gesichtspunkt kam für den Ökonomen Bartels hinzu: Arbeit musste frei sein und gut bezahlt werden. Manche vergaßen das im philosophischen Überschwang. Nicht der Praktiker aus Hamburg. Nie, da war er sicher, erzeugte eine Volkswirtschaft bessere Produkte als bei freier gut bezahlter Arbeit.[3] Es verstand sich im Übrigen von selbst, daß Sklavenarbeit nie mit der eines freien, mutvollen Menschen verglichen werden könne.[4] Unklar blieb allerdings, wie er in einer nachdenklichen Stunde über die Zuckersiederei seines Vaters Claes dachte, die am Ende einer Wertschöpfungskette stand, die auf karibischer Sklavenwirtschaft beruhte.
Auch so, Arbeit blieb der erste Wert der bürgerlichen Gesellschaft, nicht nur weil einige dadurch reich wurden, das auch, sondern weil sie den Menschen in einen geselligen Verein zur gegenseitigen Unterstützung führte. Ein besonderer Moment der Solidarität kam 1814, als die Republik nach dem Ende der napoleonischen Kriege wirtschaftlich in Trümmern lag. Dr. Abendroth erklärte, was das aufgeklärte Prinzip gegenseitiger Hilfe in diesem verhängnisvollen Augenblick bedeutete. Wir wollen arbeiten und nicht müde werden, wieder aufbauen, was der Sturm verwüstete, was das Ungewitter zerstörte; wir wollen wie Brüder uns unter einander helfen und unterstützen, wo wir können, und uns im Unglücke nicht verlassen; wir wollen arbeiten, und nicht müde werden, bis unser Tagewerk vollbracht ist. Der Segen der Vorsehung wird dann sichtlich mit uns seyn, und unser Bemühen mit einem Erfolge krönen, der unsere kühnsten Hoffnungen übersteigt.[5]
Jede Gelegenheit, den Menschen Arbeit zu geben, war eine Gelegenheit, sie zu verbessern. Warum nicht einen Palast bauen, und das Schöne mit dem Nützlichen verbinden? Bartels’ großes Vorbild in Catania, der Fürst Biskari, hatte es getan und dieses Projekt dann auch noch mit einer Alterssicherung für Arbeiter verbunden. Mehr Gemeinsinn war schwer möglich, auch wenn der Reisende wusste, dass derartige Projekte nur von den Reichsten der Reichen realisiert werden konnten. Der Fürst unternahm den Bau seines Pallastes, und setzte den fleißigen Arbeitern ... eine lebenslängliche Pension aus; tröstete so die Unglüklichen durch seine Maxime, der er in seinem ganzen Leben treu blieb, und diese war: Chi entra in nostra casa, non esce (wer einmal in meine Dienste tritt, der ist auf immer versorgt).[6] Die Maxime war patriarchalisch und Dr. Bartels gefiel sie, weil sie eine Art Sozialversicherung vorbereitete, wie zum Beispiel beim Hamburger Krankenhaus für Dienstboten, das sich über Beiträge der Arbeitgeber finanzierte.
So viel zu den Grundsätzen. Die praktischen Probleme waren naturgemäß komplizierter und vergleichsweise ernüchternd. Den Politikern der Armenanstalt musste niemand erläutern, dass die Menschen für ihren Lebensunterhalt arbeiteten. Der Arbeitsmarkt machte ihnen das nicht leicht. Vor allem der Winter war hart, die kalte Jahreszeit war eben kalt und die Elbe fror regelmäßig und verlässlich zu. Viele Gewerbe legten eine Winterpause ein. Die Armenanstalt finanzierte Notstandsarbeiten.
Das geschah zum Beispiel im Winter 1805/06. Am Tag gab es dafür sieben Schilling. Zu wenig, fanden Kritiker.[7] Viel war es in der Tat nicht, aber die Nachfrage war groß. In der Spitze beschäftigte die Fortifikation im Februar 1808 mehr als 800 Notstandsarbeiter.[8] Sie arbeiteten wahrscheinlich auch an Abendroths großem Projekt für die Stadtverschönerung und Stadterweiterung. Davon später noch mehr. Den Vorwurf unangemessener Sparsamkeit wies Kollege Bartels aber umgehend zurück. Ist es Pflicht der A.A., erklärte er im Vorstand der Armenanstalt, auf eine Hülfsarbeit zu denken – eine Sache die nicht in Abrede gestellt werden kann – so darf sie nicht anders eingerichtet werden als sie bis izt ist.[9]
Eine gewisse Kargheit in der Entlohnung also musste sein. Arbeitsbeschaffung durfte die Lohnstruktur nicht stören und die Initiative der Arbeiter nicht lähmen. Und es sollte produktiv gearbeitet werden. 1805 stellte die Armenanstalt die Bezahlung von Tagelohn auf Stücklohn um, wodurch die Zahl der diese Art Beschäftigung Benutzenden sich in der Folge um 2/3 verminderte, weil der Träge nun nicht mehr wie der Arbeitsame bezahlt erhielt.[10] Abendroth unterstrich diese Prinzipien 1808 in der Sparkommission der Armenanstalt, wo Einigkeit darüber erzielt worden war, die Arbeitsbeschaffung trotz der Finanzklemme fortzuführen, und wo es zu den Löhnen hieß, daß nach den jedesmaligen Preisen der Lebensmittel dieselben so bestimmt werden, daß sie noch etwas weniger als den schlechtesten Arbeitslohn eintragen.[11] Ebenso wichtig war es ihm allerdings, daß darin ein Arbeitslohn und kein Allmosen liege. Auch wenn sie karg bezahlt wurde, es sollte Arbeit sein, die ein Minimum an Selbstvertrauen gab.
Arbeitsbeschaffung war vor allem in Krisenzeiten wichtig. Wenn Ruhe und Eigentum gefährdet waren, empfahl Abendroth massive Beschäftigungsmaßnahmen. Der Fall trat 1813/14 ein. Die Stadt gehörte zum französischen Kaiserreich, was die Erhaltung der öffentlichen Ordnung nicht weniger dringlich machte. Der Ex-Maire forderte für seine Stadt, que pendant l’hyver prochain des travaux publics, entrepris pour le compte du gouvernement, continueront; à fin qu’au moins 20.000 individus trouvent du travail. – Le climat paroit s’opposer à ces travaux pendant l’hyver, mais on saura vaincre cette difficulté.[12] Im Notfall musste auch das Klima besiegt werden, um im Winter 20.000 Leute zu beschäftigen, so Abendroths Appell an den Innenminister in Paris.
Dieser Ratschlag galt unabhängig vom Regime immer, auch im Winter 1830/31. Die revolutionären Unruhen des Sommers wirkten nach, ein eilends gegründeter Hilfsverein wohlmeinender Bürger störte die Vorsorge der Armenanstalt mehr, als dass er half. Eines half aber bestimmt: Arbeitsbeschaffung. Die war jetzt der Baudeputation angesiedelt, die dafür 10.000 Mark in einem Normaljahr ausgab.[13] Nur war 1830 kein Normaljahr. Präses Abendroth und das Armenkollegium drängten im Senat darauf, die öffentlichen Arbeiten so lange als möglich fortgehen zu lassen; auch im Winter wenn andre Arbeiten cessiren, die Gassenreinigung von Eis und Schnee mit kräftiger Hand betreiben zu lassen.[14] Er erklärte es geduldig dem aufgeregten Verein, und der alte Baron Voght bekam von ihm zu hören, daß noch nie so viel für arbeitsfähige Mannspersonen geschehen ist, als iezt, von den 120.000 Mark der Entfestigungssteuer, komt weit mehr als die Hälfte der bedürftigen Classe zu Gute.
Sogar familiäre Initiativen kamen zum Tragen, mein Sohn hat auf meinen Wunsch im Spätjahr mit Räumen angefangen und beschäftigt damit täglich 100 Personen.[15] Es könnte sein, dass Abendroth damit auf die vorbereitenden Arbeiten für die Errichtung der Villa seines Sohns am Neuen Jungfernstieg anspielte, der Architekt war Alexis de Chateauneuf. Kunst und Luxus ließen Geld für die Arbeiter fließen, Reichtum erzeugte Gemeinsinn, so wie Bartels es in Catania beim Fürsten Biskari beobachtet hatte. Wenn das stimmt, dann war die opulente Villa Abendroth, deren Reste noch heute im Museum für Kunst und Gewerbe zu besichtigen sind, die optische Manifestation des Diskurses über Luxus und Bürgertugend, den Georg Heinrich Sieveking einige Jahrzehnte früher mit seinen Mitbürgern in der Patriotischen Gesellschaft geführt hatte.
Aber das Dilemma blieb. Den Arbeitslosen Arbeit zu geben, ist eigentlich Pflicht, so Abendroth im Herbst 1830 und so ja auch schon Kollege Bartels 1806. Nur das quomodo? ist leicht nicht ausführbar, wenn man nicht, indem man einigen Verarmten hilft, wieder andre durch Entziehung von Arbeit, verarmen machen will.[16] Das beste Mittel dagegen waren produktive Infrastrukturprojekte wie der Bau von Straßen oder der Umbau der Wälle zum Volksgarten. Sie waren nützlich, förderten Wirtschaft und Handel, lüfteten die Stadt und schufen Arbeitsplätze. Dahin floss die Entfestigungssteuer.
Aber die Arbeitsbeschaffung hatte eine schlechte Presse. Ein revolutionärer Volksfreund von 1830 regte sich lautstark über Geldverschwendung auf. Befremdlich, fand Senator Abendroth. In allen Staaten, schrieb er, sucht man den Theil des Publicums, der brodlos ist, der sich allenthalben unabwendlich findet, durch öffentliche Arbeiten fortzuhelfen und zu unterstützen; hier geschieht dies auf eine auch für das Publicum wohlthätige Art durch Wall- und Straßenbau-Arbeit; … Jeder Staat hat eine Menge Menschen, die auf gewöhnlichen Wegen nicht fortkommen können, diese beschäftigt die Regierung durch Arbeiten, wozu nur wenig Geschicklichkeit gehören darf, die unter gehöriger Leitung jeder verrichten kann. Für uns ist es ein Glück, daß wir Gelegenheit haben, dies auf eine in jeder Hinsicht so nützliche Art thun zu können.[17] Das Geld war also gut investiert. Trotzdem breitete sich Erleichterung aus, wenn die Nachfrage nach öffentlich subventionierten Arbeitsplätzen nachließ. Es gab keine Arbeitslosenstatistiken, also zeigte die Zahl der Bewerber bei den Notstandsarbeiten ersatzweise die Lage am Arbeitsmarkt an. Alle data stimmen darin überein, so Abendroth aufatmend Ende 1832, daß die Noth so gar groß nicht seyn muß, da … auch bei den öffentlichen Arbeiten nicht ein solches Andrängen ist wie früher.[18] Nach den revolutionären Turbulenzen ein Zeichen der Entspannung und Entwarnung.
Für diejenigen, die vom Gesellschaftsvertrag auf Gegenseitigkeit durch Arbeit noch nichts gehört hatten, gab es Zwangsarbeit. Selbst manchen Aufklärern galt es als ausgemacht, daß nicht Mangel an Arbeit, sondern M a n g e l a n A r b e i t s – L u s t in den meisten Fällen die einzige Quelle des Mangels an Broderwerb sei.[19] Dem Mangel an Arbeitslust sollte durch einen Zwangsaufenthalt im Werk- und Armenhaus an der Alster abgeholfen werden, da wo heute der Konsumtempel der Europapassage steht. Manchmal wurde es auch Zuchthaus genannt, der Name changierte. So hieß es Anfang der 1790er-Jahre: Ein fauler Arbeiter dem Zuchthause zur Zwangs-Arbeit übergeben, macht fünfzig faule Arbeiter fleißig, und ein fauler Armer ohne Arbeit im Zuchthause versorgt, macht fünfzig fleißige Arbeiter faul.[20] Es waren die Leuchten der Hamburger Aufklärung, Caspar Voght, Georg Heinrich Sieveking und Johann Arnold Günther, die diese strenge Ansicht der gesellschaftlichen Realität vortrugen. Es gebe keine Alternative, hieß es: Dies liegt in der Natur der Sache, und in der Natur des Menschen.[21] Die sollte gebessert werden. Die kaufmännischen Rechner fügten noch hinzu, dass die Arbeit sich selbst finanzieren müsse, die Produkte sollten kostendeckend verkauft werden.[22]
Es funktionierte nicht. Aus der rückblickenden Perspektive des kritischen Sozialpolitikers Abendroth – er schrieb dies 1832 – war die ganze Arbeitsbeschaffung im Werkhaus ein Fiasko, weil da … alle solche Arbeit theuer und schlecht wird, wir keine Concurrenz aushalten können, wie die Erfahrung aller Zeiten, und namentlich des Werk- und Armenhauses lehrt, wo früher einer … mit 3000 Mark und freier Wohnung als Fabrikmeister angestellt ward, allein nach kurzer Zeit des großen Verlustes und der Kostbarkeit wegen Alles wieder aufgegeben ward; man überließ alles nach kostbarer Erfahrung der Concurrenz.[23]
Die Schwierigkeiten entstanden aus der ökonomischen Gemengelange der Großstadt. Öffentlich subventionierte Produktion in den Anstalten wuchs sich schnell zu einer gefährlichen Konkurrenz aus. Textilarbeiter gab es unter den Handwerkern in Menge. Wenn das Armenhaus eine eigene Produktion aufbaute, konnte das diese Arbeiter selbst in Gefahr bringen. Die Anlegung eines wirklichen Arbeitshauses ist bei uns nicht ausführbar, … weil … dadurch andern Bürgern ihr Erwerb entzogen werden würde, und wir also, wenn wir hier den Leuten Arbeit geben, wir andere, denen der Erwerb auf diese Weise entzogen wird, wieder zu Candidaten dieser Anstalt zuziehen.[24]
Das war wahrscheinlich ernst zu nehmen. Handwerkliche Textilproduzenten waren von der Armutskrise im Vormärz am schwersten betroffen. Es herrschte chronische Unterbeschäftigung und die Reallöhne sanken. Das konnten die Arbeiter nur durch Selbstausbeutung kompensieren und hatten trotzdem kaum eine Chance, genug zu verdienen. Ein Arbeitshaus hätte diesen Teufelskreis der Verarmung durch zusätzliche Produktionskapazitäten noch verschärft. Woher soll auch für so viele Menschen Beschäftigung kommen? Ich – Abendroth – weiß keine vorzuschlagen, weiß aber wohl, daß wenn man sich nicht mit allgemeinen Redensarten begnügt, sondern ins Detail geht, kein einziger Vorschlag das gewünschte Resultat je gegeben hat und je geben wird, ein Bedürfniß, woran alle solche Anstalten gescheitert sind, und immer scheitern werden, worüber unzählige Preisfragen unbeantwortet geblieben sind. Jetzt setzte es sogar Hiebe für die Patriotische Gesellschaft, die anscheinend nicht mehr wusste, welche Erfahrungen sie selbst gemacht hatte: Die Patriotische Gesellschaft hat von neuem eine Preisfrage aufgegeben, es sollen schon 9 Anmeldungen geschehen seyn, allein eine noch unverdaulicher als die andere.[25] Mit anderen Worten, diese Mühe hätte sie sich sparen können. Unnötig zu erwähnen, dass Caspar Voght, der hinter dieser Initiative der Gesellschaft steckte, diese Ansichten keineswegs teilte.[26]
Merkwürdig war, dass auf dem Lande alles schöner aussah. In Ritzebüttel pflegte Gouverneur Abendroth sein sozialpolitisches Gärtlein und gründete im Oktober 1818 ein Arbeitshaus. Großzügige Bürger sorgten sonntags für Fleisch auf dem Tisch. Auch der Arme war Mitmensch und verdiente Barmherzigkeit. Je kleiner die Gemeinde, desto patriarchalischer scheinbar der Senator. Lag es an der frischen Luft? Im Arbeitshaus wurde gestrickt, gesponnen und genäht, die Männer produzierten Taue – und die Produkte fanden Absatz: Wir haben, schrieb Abendroth 1820 an den Senat, von der HafenDeputation begünstigt … für dieselbe einiges Thauwerk gemacht und dadurch unseren Credit so befördert gesehen, daß alles statt in Altona arbeiten zu lassen … jetzt bey uns arbeiten läßt … Die an Betteley und Müßiggang gewöhnten Kinder werden zur Thätigkeit und einem gesitteten Betragen immer mehr gewöhnt und so wie anfangs beynahe ein Widerwille gegen die Aufnahme war so muß man jetzt oft die Bitte der Aufnahme abschlagen. Im Winter können auch erwerbslose Arme am Tage daselbst arbeiten.[27] Das neue Institut ähnelte stark einer Fabrik mit einem gut vernetzten Amtmann für Auftragsakquise und Qualitätsmanagement an der Spitze. Natürlich war es auch ein Glücksfall, dass man der lästigen Altonaer Konkurrenz das Wasser abgraben konnte. Es war Gewerbeförderung in Kombination mit Sozialpolitik. In Ritzebüttel wärmte sie das Herz, in Hamburg war sie undurchführbar.
Arbeit konnte und sollte aber auch abschrecken, Herumtreiber und Vagabunden nämlich. Von ihnen nahmen die Administratoren der republikanischen Sozialpolitik ohne Weiteres an, sie würden es sich in den Anstalten gemütlich machen, so hatten also diese Eingesperrten bey den sub No. 1–4 angegebenen Annehmlichkeiten des Lebens, noch den Genuß des dolce far niente und unter sich eine beständige Conversation, sie hatten mehr … als sie in ihren ärmlichen Wohnungen haben konnten, und freuten sich die mehrsten, den Winter so angenehm zu bringen zu können.[28] Die sub No. 1–4 angegebenen Annehmlichkeiten des Lebens waren übrigens Essen, Bett, Wärme und Bekleidung. Die Republik wollte diese eigentlichen Vagabonden von uns bannen.[29] Da sie nicht arbeiten wollten und da es auch mit der Von-uns-Bannung nicht immer klappte, blieb nur eines übrig: Ihre Arbeitskraft musste zwangsweise in rohe Energie umgesetzt werden.
Im Werk- und Armenhaus installierte Polizeichef Abendroth eine Tretmühle.[30] Die Verurteilten konnten sich nicht über schlechte Luft beklagen. Die aufgeklärte Wissenschaft der Korrektionsanstalten rechnete pro Insassen mit gut 20 Kubikmeter Raum, mehr als genug für die zehn Treter im Saal, der 400 Kubikmeter fasste. Jeweils sechs von ihnen befanden sich gleichzeitig im Rad, nach einer Minute ertönte eine Glocke, einer stieg aus, ein anderer ein. Jeder hatte also eine Fünfminutenschicht, in der er etwa 400 Stufen trat, gefolgt von fünf Minuten Ruhe. Gearbeitet wurde von morgens um sechs bis abends um 18 Uhr, zwölf Stunden also, aber die Pausen waren lang, Frühstück von acht bis neun, Biertrinken von 10.30 bis 11 Uhr, Mittag von zwölf bis 14 Uhr, Nachmittagspause von 15.30 bis 16 Uhr. So kalkulierte der Polizeichef und inklusive der Fünfminutenpausen kam er zu dem Ergebnis, dass die Treter eigentlich nur vier Stunden pro Tag arbeiteten.
Wenn diese Leute mehr an Arbeit gewöhnt wären, so die Einschätzung Abendroths, der statistische Analysen im Strafvollzug liebte, so würde dies bey gesunder Luft gar keine Arbeit seyn, da mancher Tagelöhner viel schwerer arbeiten mus.[31] Zwischen August 1825 und Februar 1826 verurteilte er 197 Bettler zur Zwangsarbeit, 30 von ihnen zweimal, ein paar noch öfter.[32] Seine skeptische Zwischenbilanz: Diese Einrichtung hat bis jetzt die gute Würkung gehabt, daß die Vagabonden sich sehr merklich vermindern, da sie in ihren Schlupfwinkeln und Herbergen aufgesucht und ohne weiteres nach angestellter Vernehmung zur Tretmühle verurtheilt werden. Die immer problematische moralische Verbesserung machte aber auch bei Tretmühlenarrest keine sichtbaren Fortschritte.[33] Wie es scheint, war Abendroth selbst von dieser etwas brachialen Sozialpolitik nicht überzeugt.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 310.
[2] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 311.
[3] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III e 2, Reisetagebuch, 13. Stück.
[4] Bartels: Briefe; Bd. 3, S. 339
[5] Abendroth: Wünsche, S. 188.
[6] Bartels: Briefe, Bd. 2, S. 246.
[7] StAHH, Senat Cl VII Lit Qa No 3 Vol 12 Fasc 28, Vortrag Bartels’ im Armenkollegium, 17.7.1806.
[8] Voght: Gesammeltes, S. 91.
[9] StAHH, Senat Cl VII Lit Qa No 3 Vol 12 Fasc 28, Vortrag Bartels’ im Armenkollegium, 17.7.1806.
[10] Voght: Gesammeltes, S. 81.
[11] StAHH, Allg. Armenanstalt I 27, von Abendroth unterzeichnetes Protokoll der Kommission, 10.9.1808.
[12] StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Memorandum Abendroths für Montalivet, Entwurf, Sommer 1813. …dass im kommenden Winter die öffentlichen Arbeiten auf Kosten der Regierung fortgesetzt werden, so dass wenigsten 20.000 Individuen Arbeit finden. – Das Klima scheint sich diesen Arbeiten im Winter entgegenzustellen, aber man wird diese Schwierigkeit zu überwinden wissen.
[13] Abendroth: Bemerkungen, S. 14f.
[14] SUB Hamburg, Campe Sammlung 18, Abendroth an E. Roß, 14.10.1830.
[15] StAHH, Familie von Voght Caspar von Voght I 42, Abendroth an Voght, 17.12.1832.
[16] SUB Hamburg, Campe Sammlung 18, Abendroth an Pastor Böckel, 22.10.1830.
[17] Abendroth: Beleuchtung, S. 11.
[18] StAHH, Senat Cl VII Lit Mb No 2 Vol 9 Fasc 1 Dok 28, Memorandum Abendroths, Sept./Nov. 1832.
[19] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 202.
[20] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 180.
[21] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 180.
[22] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 182f.
[23] StAHH, Senat Cl VII Lit Mb No 2 Vol 9 Fasc 1 Dok 28, Memorandum Abendroths, Sept./Nov. 1832.
[24] StAHH, Senat Cl VII Lit Mb No 2 Vol 9 Fasc 1 Dok 28, Memorandum Abendroths, Sept./Nov. 1832.
[25] StAHH, Senat Cl VII Lit Mb No 2 Vol 9 Fasc 1 Dok 28, Memorandum Abendroths, Sept./Nov. 1832.
[26] Voght: Gesammeltes, S. 152–154.
[27] StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel II Fach 1 Vol F1 Dok 10, Abendroths Bericht über Ritzebüttel 1819.
[28] StAHH, Senat Cl VII Lit Mb No 2 Vol 9 Fasc 1b Blatt 279, Memorandum Abendroths, o. D., wohl 1827.
[29] StAHH, Senat Cl VII Lit Mb No 2 Vol 9 Fasc 1b Blatt 279, Memorandum Abendroths, o. D., wohl 1827.
[30] StAHH, Senat Cl VII Lit Mb No 2 Vol 9 Fasc 1b Blatt 279, Memorandum Abendroths, o. D., wohl 1827.
[31] StAHH, Senat Cl VII Lit Mb No 2 Vol 9 Fasc 1b Blatt 282, Memorandum Abendroths, o. D., wohl 1827; Hübbe/Plath: Ansichten, Bd. 2, S. 236–239 beschreibt die Einrichtung und nennt etwas andere Zahlen.
[32] StAHH, Senat Cl VII Lit Mb No 2 Vol 9 Fasc 1b Blatt 285–290, Übersicht Abendroths, o. D.
[33] StAHH, Senat Cl VII Lit Mb No 2 Vol 9 Fasc 1b Blatt 282f., Memorandum Abendroths, o. D., wohl 1827.