Hamburgs Reformer wollten eine Gesellschaft der Vernunft aufbauen. Allein aber konnten sie nichts erreichen, sie brauchten den Rückhalt der Öffentlichkeit. Dazu nutzten sie Zeitungen, Industrieausstellungen und Volkskalender. Persönliche Angriffe waren zu vermeiden.
Dies ist Teil 24 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Die Patriotische Gesellschaft wollte ihr soziales und kommunales Verbesserungsprogramm durchsetzen, stand dem Staat nahe, war aber nicht der Staat. Sie musste sich also auf die Wirkung von Vorbild und Anregung verlassen. Deshalb brauchte sie eine Zeitung und das waren die Privilegirten wöchentlichen gemeinnützigen Nachrichten von und für Hamburg. Die Wöchentlichen Nachrichten gründeten 1792 die Reformer um Johann Arnold Günther. Er erläuterte das Projekt in der ersten Ausgabe.[1] Das Blatt sollte nur Nachrichten enthalten, die sich auf würkliches Bedürfniß, auf würklichen Nutzen, oder doch auf würkliche Bequemlichkeit des bürgerlichen Lebens beziehen.[2] Gemeinnützig wollte es sein, das stand auf der ersten Seite jeder Ausgabe. Nutzen war das Schlüsselwort, Nutzen war Grundlage aller Verbesserung.
Der Anspruch war praktisch und modern, und traf bei den Lesern auf große Resonanz. Gegen 1800 erreichte die Zeitung eine Auflage von 5.000 Exemplaren,[3] nicht so viel wie der Hamburgische Correspondent, aber doch beachtlich, da sie praktisch nur in Hamburg gelesen wurde. Die Stadt hatte offensichtlich ein großes Leserreservoir. Sogar der gemeine Mann lieset täglich seine Zeitung,[4] meinte der Sozialmediziner Dr. Jakob Rambach. Kritiker hatte das Blatt allerdings auch. Es sei weder gemeinnützig noch von und für Hamburg, mäkelte die Zeitschrift Hamburg und Altona und warf der Konkurrenz auch gleich noch Misshandlung der deutschen Sprache vor.[5]
Der Rechtsanwalt und Sozialpolitiker Dr. Abendroth lancierte in den Wöchentlichen Nachrichten seine Ideen und setzte sich dort mit seinen Gegnern auseinander.[6] Er tat es anonym, so war der Stil des aufgeklärten Diskurses: Sachargumente zählten, die Personen sollten dem Leser gleichgültig sein. Da alles mit Belegen versehen ist, so werde ich mich nicht nennen,[7] erläuterte Abendroth 1814 die Verfahrensregeln. Das Gesetz der sachgeleiteten Anonymität galt auch für Veröffentlichungen zu laufenden Gerichtsverfahren. Was das bedeutete, hatte er schon 1794 seinen Lesern erklärt: Der Grund, warum ich diese meine Ueberzeugung öffentlich mittheile, ist, weil ich wünsche, mehrere meiner Mitbürger zu finden, die sich von meiner Meynung überzeugen … öffentlich muß ich dies thun, da … meine Meynung nur Wirkung haben kann, wenn sie eben so öffentlich bekannt wird. – Da ich mich sorgfältig für Personalitäten – vor persönlichen Angriffen also – hüte, so kann auch ich billig hoffen, damit verschont zu werden, da doch nur Gründe diese Sache entscheiden können.[8] So funktionierte also vernünftiger, öffentlicher Diskurs, sachorientiert und ohne Rücksicht auf die Person. Sollte er zumindest.
Hamburg und Altona, das neue Journal, das das Gute wollte und dafür schrieb, konnte diesen Standpunkt nur unterstützen. Was kümmert dem Weisen der Name?,[9] fragte das Blatt gleich in der Erstausgabe 1801. Die Nennung von Namen galt der aufgeklärten Öffentlichkeit immer als Skandal. Das musste der Bremer Prediger und Pädagoge Johann Ludwig Ewald erfahren, der 1799 seine Fantasieen auf einer Reise durch die Gegenden des Friedens veröffentlicht und darin sehr kühn seine Hamburger Gesprächspartner dem lesenden Publikum mit vollem Namen vorgestellt hatte. Die waren empört. Ewald müsse lächerlich gemacht und mit seiner eignen Sauce übergossen werden,[10] schrieb der patriotische Dr. Meyer.
Ferdinand Beneke war auch Opfer dieser Indiskretionen geworden. Exzentrisch hatte Ewald ihn genannt.[11] Nach diesem starken Wort müsste ihn eigentlich jeder für verrückt halten, meinte Dr. Beneke, nahm es jedoch mit Humor. Johann Heinrich Bartels sah das anders. Schließlich gab es Regeln. Die Sache hatte für sich selbst zu sprechen, wer aber die Männer sind? kann dem Publikum gleich viel sein;[12] Freund Abendroth hatte diese Regeln des aufgeklärten Diskurses ja auch schon drucken lassen. Es fragte sich nur, ob die Wahrheit wirklich so objektiv und unabhängig von Person oder Partei war.
Noch mehr fragte es sich allerdings, wie die Aufklärer diese Regeln unter den Bedingungen der Zensur anwenden wollten. Wichtig war in jedem Falle, dass die richtigen, die aufgeklärten Bücher die gedruckte Dummheit verdrängten, und das erforderte gezielte Literaturförderung. Senator und Bürgermeister Bartels hatte in seinen jungen Jahren in Catania die Geschichte des Bischofs Ventimiglia gehört und aufgeschrieben. Der Bischof war Großinquisitor, aber von besonderem Geisteszuschnitt. Er war aufgeklärter Freund des Fortschritts. Um den zu verbreiten, organisierte er den klandestinen Import der Bücher von Voltaire und Rousseau und förderte allenthalben den Verkauf. Sollten Sie wohl glauben, daß von einem nachmaligen Groß-Inquisitor hier die Rede sei? Dies Mittel schlug gut an, in kurzer Zeit gehörte Belesenheit zum feinen Weltton, und der Geist der Aufklärung und der Toleranz verbreitete sich unvermerkt.[13]
Doch die Zensur kam dahinter und veranstaltete Hausdurchsuchungen. Der einfallsreiche Bischof gab Tipps, wie man sie hinters Licht führen konnte. Der Buchhändler versteckte die aufrührerischen Werke unter Bergen von andachtsfördernder Rosenkranzliteratur und die etwas unbedarfte Glaubenspolizei fiel darauf herein. Sie fand zwar einen Titel von Hugo Grotius, dem holländischen Vorkämpfer religiöser Toleranz, darüber, daneben und darunter aber lauter lesenswerte Werke über die Heilige Messe und urteilte beruhigt, Nein, gewiss nichts kezrisches, Grotius von der heiligen Messe, ein Buch das einem jeden anzuempfehlen ist, um darin zu lesen und zu studieren!!!![14] Dr. Bartels notierte jedes Wort über diese fabelhafte Geschichte und fand einmal mehr Grund laut aufzulachen über so viel Dummheit. Hätte er nur gewusst, dass er dermalen selbst Zensor werden würde. Klar war ihm jedenfalls, dass der Fortschritt ausblieb, wenn endlich nicht dem Buchhandel aufgeholfen, und der Verlag der Schriften erleichteret wird, und selbst man den Nuzen der Publizität, so lange diese nur sich nicht über ihre Gränzen hinaus erstreket, einsehen lernet.[15] Wo ihre Grenzen lagen, war vorerst keine dringliche Frage. Wichtiger war, dass die Publizität ihre gemeinnützige Wirkung entfalten konnte. Die Hamburger Republik bot dafür gute Voraussetzungen. Die Patriotische Gesellschaft publizierte energisch – ihre eigenen Verhandlungen zum Beispiel in sieben Bänden.
Darüber hinaus organisierte sie Industrieausstellungen, eine ganz besondere Form der Öffentlichkeitsarbeit, wissenschaftlich, praktisch und im Idealfall von unmittelbarem Nutzen für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt. Die erste fand im April 1790 im großen Saal des Ratskellers statt.[16] Die Organisatoren sorgten für Publicity: Ein Verzeichnis der Exponate erschien im Journal von und für Deutschland von 1791, und da man des Guten nie zu viel tun konnte, wurde es in den Verhandlungen der Patriotischen Gesellschaft gleich noch einmal abgedruckt. Es ging dabei um die Bewirkung einer edlen Nacheiferung … – dieser mächtigen Triebfeder schneller und wigtiger Fortschritte zu höhern Vollkommenheiten.[17] Öffentlichkeit erzeugt Wettbewerb und Wettbewerb erzeugt Fortschritt, so die Überzeugung. Damit kündigte sich eine neue Zeit an. Der Ton war festlich und hochgestimmt, niemand zweifelte an der hohen Güte der Zukunft.
Die optimistische Selbstgewissheit hinderte aber nicht eine gewisse Selbstkritik. Die Gesellschaft war mit den Ergebnissen ihrer ersten Ausstellung nicht zufrieden. Von der kurzen Vorbereitungszeit war die Rede. Vor allem aber konnten die Unternehmer und Handwerker der Republik anscheinend nicht begreifen, was die Veranstaltung eigentlich sollte. Sie beteiligten sich nur spärlich. Das führte dazu, dass die mechanischen Künste schwach, die ästhetischen hingegen deutlich überrepräsentiert waren, unter anderem mit einem Bachanal nach Rubens.[18] Ausgerechnet.
Daneben hingen dann auch noch Porträts, Landschaften, historische Zeichnungen und Blumenstücke. Lieber gesehen hätte die Gesellschaft Wasserschrauben, Ölmühlen, Sämaschinen, Pflüge, Notsteuerruder für manövrierunfähige Schiffe und Kompasse – gerne auch Waschmaschinen zur Erleichterung der Arbeit im Haushalt. All das war zwar zu sehen, aber die Objekte stammten größtenteils aus den Beständen der Gesellschaft selbst. Die Handwerker hingegen hatten die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt und hielten sich zurück.[19] Auch das Publikum ließ zu wünschen übrig, viel lärmende Neugier, wenig technischer Sachverstand. Anscheinend kam sogar das Dienstmädchen von nebenan vorbei, um mal zu gucken. Das ließ sich regeln. Im nächsten Jahr, 1791, verlangten die Organisatoren vier Schilling Eintritt, um das so lästige Zudringen des Volks zurückzuhalten.[20]
Trotzdem erfreute sich die Ausstellung mit über 2.000 Besuchern großer Beliebtheit.[21] Unternehmer und Mechaniker, die ihre Geräte ausstellen wollten, waren aber auch diesmal kaum dabei. Die Patriotische Gesellschaft versuchte, sie mit Prämien anzulocken. Der Erfolg war mäßig und langsam riss der Geduldsfaden des Chefs. Das ist der letzte unmittelbare Versuch, den die Gesellschaft bei diesem Institut, zur Erfüllung ihres so angelegentlichen Wunsches, … der Erhebung dieser Arbeiter zu K ü n s t l e r n in ihren M e t i e r s, machte, und das einzige Mittel, welches … noch in ihrem Vermögen stand.[22] Sekretär Dr. Meyer hatte keine Lust mehr, über die Ursachen der Nichterfüllung[23] jenes so angelegentlichen Wunsches zu diskutieren, mehr Unternehmer und Handwerker anzulocken. Er ließ seinem Ärger freien Lauf und war drauf und dran, das ganze Unternehmen zu einem Misserfolg zu erklären. Das dauerte aber noch etwas.
Nach mehrjähriger Pause öffnete im September 1797 eine weitere Industriemesse ihre Pforten. Es kostete nach wie vor vier Schilling, für Fabrikanten, Handwerker und Landwirte war der Eintritt frei.[24] Die Messe war gut besucht. Trotzdem musste Dr. Meyer sich 1807 eingestehen, dass die Gewerbeausstellungen allenfalls einen gemischten Erfolg erzielt hatten. Die unbegreifliche Gleichgültigkeit der meisten hiesigen Künstler und Professionisten[25] zeigte unschön, wie wenig das Handwerk vom Fortschritt hielt und wie viel die Gesellschaft noch zu tun hatte. Allerdings konnte er sich trösten. In Paris hatte er in einem Pavillon des Louvre eine Gewerbeausstellung besucht. Die Veranstaltung, unstreitig eine der vorzüglichsten und folgenreichsten der Konsular-Regierung für das innere Frankreich, war dann aber weniger folgenreich als erhofft, die Theilnahme der Manufakturisten und Fabrikanten … nur noch geringe.[26] In Paris war das nicht anders als in Hamburg. Es war eine Enttäuschung.
Vielleicht also doch eher das gedruckte Wort? Ein weiteres Experiment begann 1799 mit dem Hanseatischen Magazin. Es sollte eine Zeitschrift von Hanseaten für Hanseaten sein. Johann Smidt, Doktor der Philosophie und kurz davor, in den Bremer Senat gewählt zu werden, hatte es konzipiert. Ende 1798 schickte er den Plan an seinen Freund Ferdinand Beneke nach Hamburg.[27] Das Magazin sollte über alles informieren, was die aufgeklärten Reformer in den Hansestädten interessierte: Bevölkerungsentwicklung, Verfassung, Tagespolitik, Gesundheitsreform, die Lage von Handel und Gewerbe und die neuesten Entwicklungen in Kultur und Wissenschaft.[28] Zu erwarten war demnach eine aktuelle Zeitschrift vom und für den politischen Geschäftsmann, vor allem auch ‚vom‘. In Bremen standen immerhin fünf Senatoren und ein Bürgermeister auf der Liste der Mitarbeiter.
In Hamburg sollte Beneke für Beiträge sorgen. Das Ergebnis fiel etwas mager aus. Es gab ein paar Worte der Ermutigung, die meisten aber hatten keine Zeit oder wollten nicht in der Öffentlichkeit genannt werden. Die Senatoren Johann Heinrich Bartels und Johann Arnold Günther antworteten etwa in diesem Sinne, Georg Heinrich Sieveking, Frankreichfreund und Großkaufmann, ebenfalls, alle drei zudem ziemlich kurz angebunden. Das hatte sich Dr. Beneke womöglich selbst zuzuschreiben.[29] Er hatte eine Antwortfrist von zwei Tagen gesetzt, etwas kühn, wenn man vielbeschäftigte Ratsherren und Kaufleute um Unterstützung bat. Positivere Resonanz kam von Senator Johann Michael Hudtwalcker,[30] dem echten Republikaner.[31] Von der Patriotischen Gesellschaft engagierte sich Dr. Meyer. Von seinem Teetisch steuerte Professor Büsch Aufsätze bei. Benekes Montagsgesellschaft sichtete ihr Archiv und gründete dafür ein Komitee mit Rechtsanwalt Johann Wilhelm Schütze an der Spitze.[32]
Bei manchen der Autoren in spe war die Sorge zu spüren, sich politisch zu exponieren, will heißen, sich politisch in die Nesseln zu setzen. Einer forderte vom Herausgeber Gemeinnützigkeit. Das konnte er haben. Dann aber forderte er zusätzlich, dass durchaus keiner Aufregung politischer Factionen, keinem Seitengeiste, Dogmatismus u. dgl. die Hand darin geboten werden soll. Man verzeihe mir diese Aeusserung. Ich wünsche, mein Leben möglichst kühl, parteilos, als Kosmopolit und Freund meiner Vaterstadt, fortzusetzen.[33] Das schrieb Johann Anton Fahrenkrüger, nicht mehr ganz jung, Pädagoge und Philosoph, der sich an einem Sittengemälde Hamburgs versuchte.
Die Sorge war nicht unberechtigt, denn der kritische Dr. Beneke wollte sich nicht mit einem Depot bloßer urtheilsloser Berichte zufriedengeben, ihm kam es auf Rügen gewisser Mängel an. Das konnte für parteilose Kosmopoliten schnell peinlich werden, zumal Beneke sich von der Zensur nichts streichen lassen wollte. Es sah ganz danach aus, als würde er es auch auf öffentlichen Streit ankommen lassen. Aber dann verhielt er sich doch eher geschmeidig, denn Rüge und Kritik hatte ihre Grenzen. Grenzen, insofern sie gar nicht, oder doch nur in völlig streitlosen Fällen die Grundverfassungen, und niemahls bekannte Personen angreifen müssen. Auch die satirische Form fand er unerlaubt, wollte stattdessen lieber sanft anraten und anständig vorstellen, immer mit der gebotenen Ehrfurcht gegen die bestehende Ordnung.[34] Im Ganzen lief es auf politische Vorsicht bei philosophischer Unbedingtheit hinaus, irgendwie ziemlich deutsch. Im Übrigen bat er Freund Smidt, dem zuständigen Bremer Zensor schöne Grüße und die Versicherung seiner innigsten Verehrung auszurichten.[35]
Mitte 1799 erschien das Hanseatische Magazin auf dem Markt. Es hatte 502 Subskribenten – 262 in Bremen, 173 in Hamburg, 30 in Lübeck und einen in Brockel.[36] Nicht schlecht für den Anfang, wenn es auch ins Auge fiel, dass sich im konservativen Lübeck – im Gegensatz zu Hamburg und Bremen – nicht ein einziger Senator darunter befand.[37] Und auch in diesem journalistischen Vorzeigeprodukt der hanseatischen Aufklärung war es mit der Wahrheit so eine Sache. Selbst Beneke wurde skeptisch. Manche Beiträge fand er zu philosophisch, andere nicht interessant genug, einige schlicht überflüssig. Ich zweifle nicht an dem guten Fortgange des Magazins wenn man es nur den Kaufleuten, und den lesenden Lesern interessant macht.[38] Aber daran fehlte es eben.
Im Vergleich zur politischen Publizistik der Republik fiel das Hanseatische Magazin deutlich ab – besonders allerdings auch in den Beiträgen, die Beneke selbst schrieb. Der Hamburger Geschäftsmann erwartete Sachinformationen, wie sie die Armenanstalt in ihren Berichten lieferte. Oder klare Aussagen über kontroverse Themen wie die Erweiterung der Stadt, über die Senator Günther – selbstverständlich ohne seinen Namen zu nennen – öffentlich diskutierte. Die Patriotische Gesellschaft ließ in ihren Publikationen kein Berechnungsdetail aus und Senator Bartels gab den kompletten Text geplanter Gesetze in den Druck. Wenig davon im Hanseatischen Magazin. Benekes Briefe waren eher feuilletonistischer Natur, berührten hier die Verfassung, da die Wirtschaft, an anderer Stelle das Theater, die Aufklärung oder den Geist der Zeit.[39] Das mochte alles stimmen oder auch nicht, praktisch gesehen war damit wenig anzufangen.
Und dann die erste Reportage des Magazins – über die Hanse im Mittelalter. Sie nahm kein Ende und viele Leser hatten schon Aktuelleres gelesen. Es gab Ausnahmen, Dr. Meyers Analyse der Handelskrise von 1799 zum Beispiel, die nachwies, dass der Schaden durch die Insolvenzen viel niedriger lag als offiziell ausgewiesen.[40] Bemerkenswert war auch ein antikapitalistisch-konservativer Unterton, der in einer kommerziellen Republik leicht deplatziert wirkte. Beneke lamentierte über den Verfall unsrer schlichten Bürger-Sitten und den allgegenwärtigen verfeinertsten Luxus, – das alles hat einen Strudel von rastlosen Zerstreuungen aller Art hervorgebracht, in welchem sich der Sinn für edlere Zwecke bey den von anstrengenden Erwerbs-Arbeiten zu ausschweifenden Genüssen taumelnden jungen Bürgern ganz verlieren muß.[41] Grund für die ganze Malaise: die ungeheure Vermehrung des Handels. Praktisch erzählte Rechtsanwalt Beneke seinen kaufmännischen Mitbürgern, dass sie mit weniger Geld glücklicher wären – für viele mit Sicherheit eine Überraschung. Kein Wunder, dass sich das Hanseatische Magazin auf den Kontoren nicht als Verkaufsschlager erwies. Dann hatte Beneke keine Zeit mehr und übergab das Magazin dem patriotischen Dr. Meyer, 1802 stellte es sein Erscheinen ein.
Gewerbeausstellungen und Hanseatisches Magazin sprachen eher die Gebildeten unter den Bewohnern der Republik an. Für die Volksaufklärung unterstützte die Patriotische Gesellschaft den Hamburgischen gemeinnützigen Almanach, versorgte ihn mit Beiträgen über ein vernünftiges und gesundes Leben und finanzierte einen Teil der Druckkosten.[42] Er hatte eine jährliche Auflage von 25.000 Exemplaren und damit wahrscheinlich mehr Einfluss auf die kleinen Leute als alle Tageszeitungen der Stadt zusammen. Für einen Schilling gab es Tipps über Säuglingspflege, Zichorienanbau, den Umgang mit tollwütigen Hunden, Gesundheitspflege ohne Arzt, die Vorzüge von Blitzableitern und eine Anleitung, wie man Sterbende vernünftig zu behandeln hat, um ihnen das Sterben nicht zu erschweren, indem man es ihnen erleichtern will.[43] Nicht gerade Sensationspresse. Der Tonfall war wohlmeinend, etwas künstlich nach vermuteter Volksmanier, etwas von oben herab mit vermeintlich schlagenden Vergleichen aus dem täglichen Leben und kleinen Frage- und Antwortspielen. So fiel wohl auch der sokratische Dialog in den Schulen der Armenanstalt aus, der Leser wurde als lieber Freund und er angesprochen.[44]
Lasen die Leute das wirklich? Ein fränkischer Pfarrer, verdienter Autor volkserzieherischer Schriften, der seine Werke durch die Patriotische Gesellschaft verbreiten lassen wollte, wusste ziemlich genau, dass die Hausierer beim bildungsfernen Volk mit ganz anderen Werken reißenden Absatz erzielten, mit Billigangeboten vom Eulenspiegel, der Schönen Magelone und den Sieben weisen Meistern. Magelone ist die Tochter des Königs von Neapel. Sie verliebt sich in Graf Peter von Provence, und dann lässt die Geschichte keine Verwicklung aus, je unwahrscheinlicher, desto besser. Noch spannender waren die Sieben weisen Meister, eine wilde mittelalterliche Geschichte über Kaiser Pontianus und seinen Sohn Diokletian. Der darf sieben Tage lang kein Wort sagen, währenddessen versucht die böse Stiefmutter ihn zu verführen – ohne Erfolg. Aus Rache wirft sie ihm Vergewaltigung vor und Diokletian wird zum Tode verurteilt. Da er nichts sagen darf, kann er sich nicht verteidigen. Dann treten die weisen Meister auf.[45] Alles ganz märchenhaft, leicht verrückt und jahrhundertealt. Leseempfehlungen der Aufklärer waren das nicht, die mochten es belehrend. Die Käufer der Sieben weisen Meister hingegen legten gesteigerten Wert auf Sex and Crime und genossen es, wenn ihnen die Haare zu Berge standen.
Karl Hübbe, der Bildungsexperte der Patriotischen Gesellschaft, vermutete allerdings, dass diese Machwerke in Hamburg wegen der plattdeutschen Sprachbarriere keine so große Rolle spielten. Ein Trost war das nicht, denn es führte ja nicht automatisch zu besseren Verkaufszahlen für die politisch korrekten Volksratgeber. Von 500 Besitzern des Beckerschen Not- und Hülfs-Büchleins, der Bibel für den aufgeklärten kleinen Mann, das bessere Lüftung der Wohnung und Misthaufen in größerem Abstand vom Haus empfahl,[46] hatten sich nur 20 dieses unverzichtbare Werk selbst gekauft.[47] Der Rest ging also auf gut gemeinte Verteilungen durch die bürgerliche Intelligenz zurück.
Immerhin kauften die kleinen Leute den Hamburgischen gemeinnützigen Almanach, zum subventionierten Preis. Vielleicht aber ließen sie sich die Aufklärung nur als Zugabe gefallen und fanden andere Beiträge interessanter, den Kalender zum Beispiel. Das wäre eine Enttäuschung gewesen, denn die Gesellschaft hatte ihre einsichtsvollsten Autoren mobilisiert, um Licht ins Volk zu bringen. Senator Günther – von ihm stammte die Idee –, Karl Hübbe, Professor Brodhagen und Dr. Meyer selbst fabrizierten in den 1790er-Jahren Aufsätze für den Almanach. Brodhagen ersetzte im Kalender die albernen WetterProphezeiungen[48] durch wissenschaftlich präzise Beschreibungen des Wetters. Ob es half? Der Hundertjährige Kalender sollte noch ein langes Leben vor sich haben. Das Volk blieb bis auf weiteres undurchsichtig.
Populäre Alternativen waren schwer zu finden. Manche kamen auf aufgeklärtes Volkstheater, Johann Heinrich Bartels zum Beispiel, er liebte ja die Unterhaltung. In Italien, in einer Kirche in Bologna, hatte er es gesehen. Dort war es natürlich nicht aufgeklärt, sondern abgrundtief katholisch – unvernünftig in jeder Hinsicht. Buffo und Serioser, zwei verkappte Priester, traten in der Kirche auf. Der Buffo, der Komiker, hielt dem Volk einen Spiegel vor. Es durfte gelacht werden, über die eigene Dummheit, die eigene Bequemlichkeit und Lüsternheit. Dann korrigierte der Seriose im Namen der Rechtgläubigkeit. Es war natürlich alles unhaltbar, aber es war unterhaltsam.
Würde das Hamburger Volk vielleicht auf diese Weise lernen? Unter der Voraussetzung selbstverständlich, dass Dogma durch Aufklärung ersetzt würde? Bartels hielt es nicht für unwahrscheinlich, dass das Ganze fürs Volk sehr lehrreich werden kann. – Aber … es gehören dann Leute dazu die mehr als alltägliche Menschenkentnis und Popularität haben. Der eine mus sich ganz in die VolksIdeen hineinstudirt haben und der andere mus wissen was für Beispiele und was für eine ErklärungsArt er wählen mus um das Volk zu überzeugen und ihre Kenntniße zu berichtigen … Wenn hir Moral gelehrt würde, man sich verschidene Lagen aus dem menschlichen Leben wählte, wo es dem gemeinen Mann gewis schwer wird strenge Rechtschaffenheit zu behaupten man hir die Ideen, die ihn gewöhnlich führen erläuterte alle in ihr wahres Licht stellte und ihm dann zeigte wie er sich aus dem Wirrwarr heraus reißen könnte und den Ruhm eines rechtschaffenen Mannes dabei behaupten – man dies ohne alle Uebertreibung thäte, so sage mir der streng Orthodoxe was er wolle, so ein Buffone und ein Seriose würden den treflichsten Nuzen stiften können.[49] Aber Dr. Bartels ahnte schon, dass der humorlose Hamburger Klerus diese Form der Volksaufklärung nicht in seinen Konfirmandenunterricht aufnehmen würde. Die Kirche war schließlich kein Ohnsorg-Theater.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Meyer: Johann Arnold Günther, S. 155.
[2] Zitiert nach Böning: Presse, S. 217f.
[3] Kopitzsch: Grundzüge, Tl. 2, S. 648.
[4] Rambach: Versuch, S. 185.
[5] Hamburg und Altona, 1. Jahrgang, 1. Bd., 1801, S. 208.
[6] Lexikon der hamburgischen Schriftsteller, Bd. 1: Abendroth (Amandus Augustus).
[7] Abendroth an Perthes, 26.11.1814, zitiert nach Wurm: Abendroth, Text bei Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 1, S. 345.
[8] Abendroth: Detenhoff, S. 3.
[9] Hamburg und Altona, 1. Jahrgang, 1. Bd., 1801, S. 6.
[10] Meyer an Beneke, 10./11.3.1799, Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 376.
[11] Beneke an Smidt, 10.3.1799, Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 373; Ewald: Fantasieen, S. 178.
[12] Bartels: Briefe, Bd. 3, Vorrede, S. 37.
[13] Bartels: Briefe, Bd. 2, S. 267.
[14] Bartels: Briefe, Bd. 2, S. 268.
[15] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 706.
[16] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 103–111.
[17] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 104.
[18] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 106.
[19] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 149.
[20] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 149f.
[21] Errechnet nach den Einnahmen von über 200 Talern, Verhandlungen und Schriften, Bd. 2 (1793), S. 22.
[22] Verhandlungen und Schriften, Bd. 4 (1797), S. 80.
[23] Verhandlungen und Schriften, Bd. 4 (1797), S. 80.
[24] Verhandlungen und Schriften, Bd. 6 (1801), S. 24f.
[25] Verhandlungen und Schriften, Bd. 7 (1807), S. 33.
[26] Meyer: Briefe, Bd. 2, S. 307.
[27] Beneke: Tagebücher, 11.2.1799, 15.2.1799, 28.2.1799, 17.7.1799, 28.8.1799, 11.10.1799, 20.12.1799, 26.1.1800.
[28] Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 288f.
[29] Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 345f.
[30] Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 349.
[31] Beneke: Tagebücher, 5.11.1798.
[32] Beneke an Smidt, 2.2.1799, Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 354.
[33] Beneke-Tagebücher, Bd. I/4, S. 350f.
[34] Beneke an Smidt, Februar 1799, Beneke-Tagebücher, Bd. I/4, S. 358.
[35] Beneke an Smidt, Februar 1799, Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 358.
[36] Hanseatisches Magazin, Bd. 1 (1799), S. XX.
[37] Hanseatisches Magazin, Bd. 1 (1799), S. XXIIIf.
[38] Beneke an Smidt, 26.11.1799, Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 398f.
[39] Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 468–528.
[40] Meyer: Versuch, S. 84–87.
[41] Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 522. Es ist ein Zitat aus Benekes viertem Brief eines Hanseaten, abgedruckt im Hanseatischen Magazin, Bd. , Heft 2, Bremen 1801, S. 200-270.
[42] Verhandlungen und Schriften, Bd. 3 (1795), S. 60f.; Bd. 4, S. 447–454.
[43] Verhandlungen und Schriften, Bd. 4 (1797), S. 447f.
[44] Verhandlungen und Schriften, Bd. 4 (1797), S. 449.
[45] Verhandlungen und Schriften, Bd. 6 (1801), S. 468–471.
[46] Becker: Noth- und Hülfs-Büchlein, S. 183.
[47] Verhandlungen und Schriften, Bd. 6 (1801), S. 470, das war die Vermutung von Karl Hübbe.
[48] Rambach: Versuch, S. 55.
[49] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III e 1 b, Tagebuch, 28.12.1785.