Dies ist Teil 25 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Gegen 1800 wurde Hamburg zur Großstadt. Innerhalb der Stadtmauern lebten 100.000 Menschen, Tendenz steigend. Viel Platz hatten sie nicht und es wurde immer enger. Wohnen, Hafen, Handel und Handwerk konzentrierten sich auf der kleinen Fläche von Alt- und Neustadt, auf der heute nur 16.000 Menschen leben. Der Ring der Wälle um die Stadt machte Wachstum unmöglich und abends schlossen sich die Tore. Der Handel aber boomte seit 1795. Wegen der Revolutionskriege fiel Amsterdam als europäische Handelsmetropole aus und viele Schiffe segelten direkt in das neutrale Hamburg. Überall entstanden neue Speicher, die Platz brauchten, der nicht da war, und Mieter verloren ihre Wohnungen. Die Preissteigerungen führten zu einer sozialen Krise, die alle Maßnahmen der Armenanstalt ins Leere laufen ließ. Es lag daran, dass diese Immobilien alles andere als immobil waren. Jedes Jahr wurden Gebäude für 6 bis 8 Millionen Mark verkauft.[1] In der Stadt gab es 5.200 Immobilienkomplexe, die im Dezember 1809 für 80 Millionen Mark versichert waren.[2] Das bedeutete, dass im Durchschnitt jedes Gebäude, ob Speicher oder Mietshaus, alle zehn Jahre seinen Besitzer wechselte. Immobilien waren Objekte kommerzieller Spekulation, was selbst Hamburgern auffiel, die nach ein paar Jahren in ihre Stadt zurückkamen. Die Besitzer der Häuser haben sich größtenteils verändert, alle Straßen prangen mit neuen Gebäuden, schrieb 1805 ein leicht desorientierter Rückkehrer.[3] Einer der führenden Spekulanten war Franz Jacob Duckner, offiziell Zitronen- und Austernhändler.[4] Er besaß Häuser unter anderem an den Hütten, in der Rothesoodstraße und am Zeughausmarkt, in denen 800 bis 1.000 Menschen wohnten. Reich und geizig war er, so Ferdinand Benekes Kurzeinschätzung.[5] Seinen Mietern dürfte noch mehr dazu eingefallen sein.
Die Preisspirale drehte sich immer schneller und Wohnen wurde unbezahlbar.[6] Die Mieten von Kleinwohnungen verdreifachten sich in den 1790-er Jahren.[7] Aber die Preise sprangen in allen Kategorien in die Höhe. Repräsentative Wohnhäuser in zentraler Lage wurden vor Beginn der Inflation für 300 Mark jährlich vermietet, um 1800 mussten Interessenten dafür zwischen 900 und 1.500 Mark ausgeben. Verglichen damit lag der Wochenlohn für Handarbeiter um 1800 bei 6 bis 9 Mark, also 300 bis 450 Mark pro Jahr.[8] Es drohte gewaltsame Vertreibung langjähriger Bürger von ihrer Wohnung und Nahrung.[9] Ärzte wiesen auf die psychologischen Auswirkungen hin. Besonders bemerkte ich, schrieb Dr. Rambach, zu der Zeit, wo die Wohnungen so selten waren, daß mancher, dem seine Miethe aufgesagt war, nicht wußte, ob er im folgenden halben Jahr ein Obdach finden würde, viel Melancholien unter dieser VolksKlasse, vorzüglich unter den Weibern.[10] Beim Wohnen zeigte sich die soziale Rangordnung der Metropole. Etwa 35 Prozent der Haushalte bewohnten nach der Volkszählung von 1811 ein Haus oder eine abgeschlossene Etage eines Mietshauses. Sie lebten nach den Standards der Zeit in komfortablen Verhältnissen. 20 Prozent hatten eine Bude, eine Wohnung im Erdgeschoss also oder eine Kellerwohnung gemietet. Diese Wohnungen waren beliebt und vergleichsweise teuer, weil dort kleine Kneipen und Geschäfte eingerichtet werden konnten.[11] 45 Prozent lebten in einem Saal. Das waren zugige Billigwohnungen in den Obergeschossen, die sich auf das Jacobi-, Katharinen- und Michaeliskirchspiel konzentrierten. Komfort spielte in dieser Kategorie keine Rolle mehr, es musste nur bezahlbar sein, war es aber nicht mehr.[12]
Auf den Anstieg der Preise folgte eine überschäumende Bautätigkeit. Die besitzenden Klassen befanden sich im Investitionsrausch. In den Jahren nach 1795 entstanden in der Stadt 1.200 neue Gebäude. Das entspannte die Lage für die Mieter aber keineswegs, denn parallel wurden 600 alte Wohnhäuser abgerissen, und die neuen Häuser eigneten sich nicht für Leute mit schmalem Geldbeutel.[13] Wohnungen verschwanden, um für Pracht- und Packhäuser, Herrenställe und Fabrikgebäude Platz zu machen. Es giebt kolossalische Speicher, und Rafinaderien, die ganze Höfe verschluckt haben, stolze Gebäude, deren verwegene Minen über den Umsturz von ein paar Dutzend Armenwohnungen triumphiren, so daß man nicht sagen kann, die Summe der Wohnhäuser habe sich während den zuletzt vergangenen 15 Jahren in Hamburg sehr vermehrt.[14]
Steigende Mieten machten auch dem Junggesellen Beneke zu schaffen. Als er im September 1798 mit seinem Freund Johann Wilhelm Schütze auf Wohnungssuche durch die Stadt streifte, sollte die billigste Unterkunft 50 Mark pro Monat kosten. Horrible Preise auch im Segment des bürgerlichen Bedarfs, Häuser, und Miethen sind beypiellos. Noch immer crescendo. Am Kehrwieder, wo er Anfang Oktober einzog, wurde es dann doch noch etwas billiger, 400 Mark pro Jahr. Hier wohnte er im Zentrum des Getriebes der großen Handelsstadt. Der Umzug erfolgte per Schiff. Vor seinen Fenstern lagen der Hafen, die Türme der Stadt und auf der Hohen Brücke rumpelte der Verkehr. Es war eine schöne Wohnung mit Aussicht und Dienstbotenservice für den alleinstehenden Bürger. Anstrengende Geschäfte in der Stadt konnte er mit einer entspannenden Bootsfahrt nach Hause abschließen, für Besuche bei seinen Eltern in Buxtehude ließ er sich von der Haustür nach Altona rudern und stieg dort in den Ewer zur Elbquerung um. Das neue Domizil lag verkehrsgünstig und eignete sich doch für träumerische Stunden: Noch eine Pfeiffe im Fenster liegend. Ein herrlicher Abend. Die Spitzen der Masten verlohren sich in dem wolkenlosen, aber im Occident roth, falb, u. grau nüancirten Himmel. Der Halb Mond und ein Stern standen, wie ein Semikolon, über dem Hafen. Ach! schöne, große Welt! Deine Erde ist auch voll Glanz, und des Mond Bewohners Auge hängt voll Entzücken an ihrer größeren abstrahlenden Scheibe – ach! warum sind so viele Drillhäuser auf ihr?[15] Und damit war er wieder bei der Wohnungsnot der unteren Klassen angekommen.
Das Drillhaus war eine Unterkunft für Obdachlose östlich der Binnenalster. Ende 1797 berichtete Armenvorstand Dr. Abendroth über die Lage dort. Von den 283 Obdachlosen der Stadt lebten 83 in diesem verfallenen Bau,[16] in dem einmal bei schlechtem Wetter das Bürgermilitär exerziert hatte. Sie kochten an offenen Feuern, Schnapsflaschen machten die Runde und Geschrei hallte durch den Raum. Das Drillhaus war ein Ort fortgeschrittener Verwahrlosung, vor allem ein Ort der Unruhen und der Randale. Dort konzentrierte sich der Pöbel, der Auswurf, wie Senator Günther ihn nannte. Der konnte, wenn er zusammenwohnt, wie jetzt im Drill- und Zuchthause und in den Baracken auf dem Hamburger Berge der Fall ist, leicht der Ruhe des Staates gefährlich werden.[17] Die Menschen mussten dort weg, wegen der Ruhe des Staates, aber auch, weil sie den letzten Rest von Selbstachtung und Eigeninitiative bewahren sollten.
Abendroth kannte die Lage in diesen Obdachlosenasylen und wusste, daß es nur deren häufigem Genusse des Brannteweins der allmähligen Abhärtung und dem Verlust alles moralischen Gefühls zuzuschreiben ist, daß diese Leute nicht in Verzweiflung gerathen – freilich nicht alle sind erst im Drill und Zuchthause das geworden was sie jezt sind, nicht alle sind durch dies physisch und moralisch so verderbliche bey einander wohnen zu der Stufe des Versinkens gelangt auf der sie jezt stehen, aber wenn noch einige durch dies pestartig Gesundheit und Moralität ansteckende Beyspiel nicht ganz verwildert, wenn noch die Kinder von dieser Vernichtung ihres ganzen Lebens zu retten sind, wer bürgt dafür daß jene noch ein halbes Jahr widerstehen und daß für diese noch nach einem so zurükgelegten halben Jahre noch Rettung sey?[18] Er wollte also den sozialen Totalabsturz verhindern. Dabei gelang es diesem Sozialpolitiker sogar, die alte Branntweinobsession des anständigen Bürgers zu umschiffen. Jeder kannte den Trinker, schrieb ihn als versoffenes Subjekt ab und zuckte mit den Schultern. Er hingegen führte den Alkoholismus auf die Umstände zurück – im Drillhaus und anderswo.
Bessere Wohnungen, bessere Menschen – also machte Abendroth sich mit dem Kollegen Günther ans Werk. Die Armenanstalt organisierte den Bau von Kleinwohnungen. Aber ein Kleinwohnungsprogramm würde nicht reichen, das war allen klar, besonders Dr. Abendroth: Ich weis es sonst sehr wohl, daß 100 Wohnungen weder den Obdachlosen allen Obdach geben, noch den anderen eben so wichtigen Zweck Verringerung der enormen Miethe die wohl mehr Arme macht als Mangel an Wohnung selbst erreichen wird lassen.[19] Senator Günther, Mentor aller aufgeklärten Politiker im Senat, sah das genauso. Die Noth ist sehr groß, schrieb er 1798 für die Öffentlichkeit der Republik, dies zeigt nicht nur die unverhältnismässige Steigerung aller Hausmiethen, sondern auch das Zusammenwohnen mehrerer hundert Familien in kleinen Wohnungen, das mehrmahlige so kostbahre beinahe erzwungene Bauen von Wohnsählen und kleinen Wohnungen, die Erbauung der Baracken auf dem Hamburger Berge und die Benuzung des Zucht- und Drillhauses zur Wohnung.[20]
Es musste eine grundsätzliche Lösung her. Es giebt hier, so Günther, zwei Wege, entweder die Zahl der Bewohner so zu beschränken, daß unsere Stadt groß genug für uns ist, oder die Stadt zu vergrössern.[21] Er war für Vergrößerung, Abendroth auch.
Johann Georg Büsch hatte schon 1792 die Erweiterung der Stadt Richtung Grasbrook und Elbe gefordert. Als Nationalökonom sah er in erster Linie die verbesserten Wettbewerbschancen im internationalen Handel, die der Republik durch niedrigere Gewerbemieten erwachsen würden.[22] Mehr Umsatz und mehr Geschäfte, das war der Plan. Die Sozialpolitiker definierten Problem und Lösung etwas anders. Sie peilten eine Gesamtlösung an, von der auch der so schätzbare Mittelstand, der wohlhabende, aber nicht reiche Bürger profitieren würde, und das war die Eingliederung St. Georgs.[23] St. Georg war ein Ort der kleinen Leute, auf den die reichen und etwas überheblichen Bürger der fünf Kirchspiele mit leicht gerümpfter Nase herabblickten. Alle maßgeblichen Leute waren überzeugt, dass von bildungsmäßig herausgeforderten Vorstädtern ohne Geld keine höheren Einsichten für das Wohl der Kaufmannsrepublik zu erwarten waren. Ihre Teilnahme an der politischen Selbstverwaltung galt als entbehrlich. So stand es auch in der Verfassung, die sich dahingehend aussprach, dass die Bewohner von St. Georg, St. Pauli und vom Landgebiet in der Bürgerschaft weder etwas verloren noch zu suchen hatten. Doch standen vor den Toren östlich der Außenalster genügend Flächen für den Wohnungsbau zu Verfügung, nicht weit entfernt vom kommerziellen Zentrum der Stadt, schnell zu erreichen für Arbeiter und Handwerker, die ihr Geschäft in der Nähe der Kundschaft betreiben mussten, aber billiger wohnen wollten. Vorerst aber war nichts zu machen, mit Sonnenuntergang schlossen sich die Tore der Stadt, kein Mensch kam mehr raus oder rein und mit dem anbrechenden Abend befand sich St. Georg auf einem anderen Stern. Die Aussichten aber waren eigentlich günstig: Die Eingliederung St. Georgs würde die Stadtfläche um ein Drittel vergrößern.[24] Einer Stadterweiterung jedoch stellten sich politische Hindernisse in den Weg, die in der Eile nicht bewältigt werden konnten. Wie sollte der neue Stadtteil in der Bürgerschaft repräsentiert werden? Wie würden die Immobilienpreise reagieren? 30 Jahre später benötigte die Klärung dieser Fragen mehrjährige Verhandlungen, die von erregten Bürgerprotesten und einigen furiosen Auftritten in den Konventen begleitet wurden.
Die schnelle, pragmatische Lösung: Öffnung der Tore bis in den späten Abend. Selbst das war schwer genug. Das Präsidium der Bürgerschaft forderte sie seit 1796, unterstützt von Abendroth aus der Armenanstalt. Im Senat setzten Günther und Syndikus Johann Peter Sieveking das Thema auf die Tagesordnung. Das Projekt drohte jedoch an den städtischen Grundbesitzern zu scheitern, den Nutznießern der hohen Immobilienpreise im Stadtzentrum. Kaum hatte der Senat Ende 1797 die Öffnung des Steintores nach St. Georg beschlossen, schon machte er die Entscheidung am 10. Januar 1798 mit elf zu neun Stimmen wieder rückgängig, was angesichts der sozialen Spannungen in der wachsenden Stadt reichlich verantwortungslos war.[25]
Es zeigte sich sofort, dass Günther und seine politischen Freunde unter allen Umständen entschlossen waren, die Öffnung der Tore durchzusetzen. Er gab seinen Protest gegen den Senatsbeschluss zu Protokoll, teilte seinen Kollegen schriftlich mit, daß derselbe, Günther nämlich, an diesem Beschluß keinen Theil nehme, und distanzierte sich von den unvermeidlichen höchst nachtheiligen und gewagten Folgen desselben.[26] Das war unerhört und beispiellos. Die kollegiale Atmosphäre im Senat war gespannt und Günthers Laune wurde nicht besser, als sein Präturkollege ihn im drückend heißen Sommer dieses Jahres mit der Arbeit sitzen ließ und erst einmal Urlaub machte.[27] Die Krise im Gefolge der Inflation hatte sich derart zugespitzt, dass die Sozialpolitiker der Republik unmittelbar bevorstehende Unruhen befürchteten. Schon Ende 1797 hatte Abendroth angesichts der Untätigkeit des Senats, der alle Gegenmaßnahmen der Armenanstalt überließ, auf diese bedrohliche Entwicklung hingewiesen. Ich würde daher im allgemeinen dies als einen Wink ansehen unsere Vorsorge dieser Sache wegen ganz aufzugeben, wenn die jezigen Zeitumstände es nicht so dringend forderten, alle und jede Unruhen und Aufstände sorgfältigst zu vermeiden, die eine nachtheilige Würkung für unsere innere und äußere Lage hervorbringen würden - [28]
Nach Anzeichen für ein unterschwelliges Beben brauchte er nicht lange zu suchen. Kritisch waren nach Lage der Dinge die Tage, an denen traditionell Mietverträge gekündigt wurden. Manchen Familien gelang es nicht rechtzeitig, eine neue Wohnung zu finden, wie einer Mutter mit ihren beiden Kindern, die im Mai 1798 vor der Paßmannischen Armenschule in Wind und Regen kampierte. Schon gestern waren unaufhörlich dichte Volksmassen um sie her, die bald ihr Bedauern, bald ihren Unwillen über Hauswirthe, Emigranten und Obrigkeit äußerten,[29] schrieb ein besorgter Lehrer an Abendroth, nachdem er Mutter und Kinder vorübergehend im Schulgebäude aufgenommen hatte. Der Vater hütete derweil – angetrunken, auch das registrierte die bürgerliche Wohltätigkeit – unter freiem Himmel den Hausrat.
Die Familie war vielleicht typisch für das soziale Prekariat der Republik. Sie lebte aus eigener Kraft in einer Art kleiner Arbeiterrespektabilität, aber auch hart am Rande der Armut. Die Mietpreisexplosion versetzte ihr einen Stoß, der sie in existenzielle Not trieb. Genau so etwas wollte die Armenanstalt verhindern. Uebrigens scheinen die ökonomischen Umstände dieser Leute noch nicht so ganz schlecht zu seyn; sie ernähren sich mit Wassertragen, haben noch den nothdürftigen Hausrath, Bett etc. und haben bisher nichts von der Armenanstalt genossen, außer daß ihre Kinder in der Abendschule Unterricht, und die damit verbundenen Emolumente genossen haben.[30] Emolumente waren in diesem Fall die schon besprochenen Schulprämien. Auch die Kinder dieser Familie erhielten sie. Schnelle und unbürokratische Hilfe war nötig. Die Not klopfte persönlich an die Tür. Ueberbringerin dieses Briefs ist die Mutter selbst, schrieb der Lehrer respektvoll an den wohlgeborenen Dr. Abendroth. Er ahnte, dass sie dort auf Hilfe rechnen konnte.
Neben der Sozialpolitik spielte auch die europäische Lage ihre Rolle. Innere Unruhen durften keinen Vorwand für die Intervention ausländischer Mächte abgeben. Und so begann eine konzertierte Aktion zur sozialen Stabilisierung der Republik. Abendroth brachte die Sozialbehörde in Stellung, Günther bearbeitete die öffentliche Meinung. Ist die Thorsperre für Hamburg nützlich oder schädlich?, fragte er in einer 20-seitigen Schrift die Bürger Hamburgs.[31] Bei den wackligen Mehrheitsverhältnissen in Senat und Bürgerschaft war es wichtig, die öffentliche Meinung hinter sich zu haben. Selbstverständlich kam er zu der sehr gut begründeten Ansicht, dass die Republik im Augenblick nichts Vernünftigeres tun konnte, als die Tore zu öffnen und damit die Stadt zu erweitern. Torsperre bedeutete nämlich nicht Torsperre, sondern das Gegenteil: Öffnung der Tore. Dr. Abendroth sammelte wasserdichte statistische Daten aus der Wieringischen Zeitung,[32] Otto von Axen, Vorsitzender der Medizinaldeputation, verfasste eine Denkschrift über die Gesundheitslage im Drillhaus[33] und Syndikus Johann Peter Sieveking koordinierte im Senat, der nach dem Fiasko vom Januar wieder auf Linie gebracht werden musste.
Am 2. August 1798 passierte das Gesetz die Bürgerschaft.[34] Ende des Jahres war es so weit, das Steintor wurde erst bis 23 Uhr, dann bis Mitternacht geöffnet. Der Preis für die Passage war gestaffelt und ganz billig war es nicht. Umso wichtiger, dass es für Fußgänger, die die Stadt bis 21 Uhr verließen, gar nichts kostete. Das waren die müden Handwerker und Händler, die sich eben noch um den späten Kunden gekümmert hatten und jetzt auf dem Weg nach Hause waren, wo sie es hoffentlich gemütlicher, geräumiger und vor allem preiswerter hatten als in der drangvollen und teuren Enge der inneren Stadt. 1799 konnten sie ihre Läden und Werkstätten auch früher öffnen, ab sechs Uhr wurde in den Wintermonaten das Steintor stadteinwärts für die kostenlose Passage zu Fuß freigegeben.[35] 1801 baute die Stadt dafür sogar einen eigenen Fußweg.[36] Andere Tore folgten.
Ihre Öffnung war ein Signal aufgeklärter Politik: Erweiterung der Stadt, Vermehrung des Wohnungsangebots und Senkung der Preise mit dem Ziel, das Leben der mittleren und unteren Klassen zu verbessern und zu erleichtern. Kurze Zeit später stellte sich der Erfolg ein und die Armenanstalt begrüßte den beschleunigten Wohnungsbau in St. Georg. Dort war ein Immobilienboom ausgebrochen. Mit der lebhaftesten Freude empfindet Armen-Collegium bereits die guten Folgen der im vorigen Jahr eingeführten Sperre des Steinthors. Mit anderen Worten der Öffnung des Steintors. Mit Vergnügen sieht es den Bau einer Menge neuer Wohnungen in der Vorstadt und die dadurch in gleicher Weise bewirkte Abnahme des so drückenden Wohnungsmangels in der Stadt.[37] Auch Sozialmediziner Rambach informierte die Öffentlichkeit in diesem Sinne.[38] Im November 1799 dann der nächste Schritt: Die Armenanstalt integrierte St. Georg in die städtische Sozialadministration. Chef des neuen sechsten Bezirks wurde, wahrscheinlich nicht ganz überraschend, Dr. Abendroth. Es war ein gutes Jahr für ihn, wenig später war er Senator. Das Drillhaus übrigens wurde im September 1799 geräumt, drei Jahre später brannte es ab.[39] Nach 1814 zeigte sich die Öffnung der Stadt auch in architektonischer Form. Die dunklen Gemäuer verschwanden und wurden durch elegante und breite Toreinfahrten mit hell leuchtenden Lampen ersetzt.[40]
Der Umbau der Wallanlagen hatte schon zuvor begonnen. Im Oktober 1804 beschloss die Bürgerschaft den Rückbau der Stadtmauern.[41] Die neutrale Hamburger Republik wollte keine Festung mehr sein, eine Belagerung hätte ihr gerade noch gefehlt und sicherheitshalber verkaufte sie auch gleich noch ihre Kanonen.[42] Stattdessen entstanden öffentliche Parkanlagen rund um die Stadt. Es war das große Bau- und Verschönerungsprojekt des Stadtentwicklers Abendroth. Im Jahr 1804 beförderte und leitete Senator Abendroth die Arbeiten, und der verstorbne sehr verdiente Artillerie-Hauptmann Richard führte sie aus, wodurch unser Wall in einen der schönsten Volks-Gärten verwandelt ward,[43] so schwärmte Dr. Meyer von der Patriotischen Gesellschaft. Schon in den 1790er-Jahren promenierten vorzugsweise die kleinen Leute auf den Wällen, am Sonnabend auch gerne die jüdische Bevölkerung. Die besitzenden Klassen hingegen zogen den Jungfernstieg vor.[44]
Die neue Parkgestaltung sorgte in ganz Deutschland für Aufsehen. Das Morgenblatt für gebildete Stände aus dem berühmten Verlagshaus Cotta berichtete über die Bauarbeiten unter der Direktion des sehr thätigen und patriotischen Senators Abendroth[45] und trug dazu bei, ihn auch zu einem überregional bekannten Politiker zu machen. Er verschaffte der Stadt eine neue Attraktion. Überall blühte und duftete es zwischen Baumgruppen und Rasenflächen im englischen Stil. Man stößt auf kleine Labyrinthe, auf Hügel, auf Strecken, die bis an die Stadtgraben hinanreichen, wird durch sich allmählich krümmende Gänge geleitet und trifft dann auf überraschende Aussichten und auf kleine, entzückende Ruhplätzchen,[46] so stand es wiederum in der Zeitung. Schönheit verband sich mit Sozialpolitik. Auf großen Flächen wurden Kartoffeln angebaut. Der Ertrag derselben kann wahrlich in den jetzigen drückenden Zeiten für Hamburg nicht unbeträchtlich sein, so dieselbe Zeitung. Der Volksgarten war Teil des großen Projekts, Hamburg zu einer hygienischeren und luftigeren Stadt zu machen und dabei noch die Ernährungslage zu verbessern. Friedrich Nicolai, der Berliner Aufklärer, hatte die Kartoffel zum Sinnbild des neuen Zeitalters der Nützlichkeit erklärt. Jetzt blühte sie unter der Direktion Senator Abendroths im Hamburger Volksgarten.
Trotz aller Erfolge blieben die Tore ein Brennpunkt der öffentlichen Sicherheit, vor allem das Millerntor, das ins wilde St. Pauli führte. Ostern 1808 passierte es.[47] Eine festlich bewegte Menge hatte sich Richtung Hamburger Berg ins Freie begeben, einen schönen Tag verbracht, der eine oder andere hatte sich vielleicht auch etwas betrunken. Gegen Abend war es Zeit, an die Heimkehr zu denken, die Massen bewegten sich zurück zum Tor, immer noch ruhig und guter Dinge, da vom Torschlusssignal nichts zu hören war. Es hatte aber irgendjemand vergessen, dieses Signal zu geben, und als die Wachen das merkten, schlossen sie diensteifrig und pünktlich den Zugang zur Stadt, ohne sich um die Menschenmengen zu kümmern, die hineinwollten und -mussten. Das österliche Volksvergnügen mündete in einen dramatischen Ausbruch von Gewalt, den niemand vorausgesehen hatte: Auf hitzige Wortgefechte folgte schwere Randale, die überforderten Wachen feuerten in die Menge, die in wilder Panik Richtung Reeperbahn flüchtete. Am Ende gab es mehrere Tote. Zuständig für die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung war Senator und Prätor Abendroth. Eigentlich hatte er auf eine schöne Gesellschaft im Hause seines Freundes von Axen gehofft. Es wurde nichts daraus.[48] Für die Bürger der Republik war es eine höchst unangenehme Erinnerung daran, dass die Ruhe der unteren Klassen keine Selbstverständlichkeit war.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 51. Die Zahl ist errechnet aus dem Ertrag der Steuer auf den Verkauf von Immobilien, die ein halbes Prozent betrug und zwischen 30.000 und 40.000 Mark einbrachte.
[2] Heß: Hamburg, Teil 1, S. 495f. 1826 lag der Versicherungswert der Immobilien bei 160 Millionen, 1841 bei 185 Millionen Mark, Neddermeyer: Statistik, S. 576.
[3] Karl Gries an seinen Bruder Diederich, 5.5.1805, zitiert nach Reincke: Briefwechsel, S. 241.
[4] Beneke: Tagebücher, 25.1.1815.
[5] Beneke: Tagebücher, 25.12.1814.
[6] Meyer: Skizzen, Bd. 1, S. 49ff.
[7] Voght: Gesammeltes, S. 60f.; vgl. auch Herzig: Unterschichten, S. 402 und Kraus: Unterschichten, S. 58.
[8] Verhandlungen und Schriften, Bd. 6 (1801), S. 502. Die Zahlen stammen von Caspar Voght.
[9] (Günther): Thorsperre, S. 11.
[10] Rambach: Versuch, S. 326.
[11] Gesundheitsverhältnisse, S. 56–58.
[12] Matti: Bevölkerungsvorgänge, S. 109f.
[13] Heß: Hamburg, Teil 1, S. 449. Heß glaubte selbst, die Zahl der Neubauten sei zu hoch gegriffen, aber sie wurde offensichtlich in der Stadt herumgereicht.
[14] Heß: Hamburg, Teil 3, S. 448f.
[15] Beneke: Tagebücher, 5.9.1798, 12.9.1798, 4.10.1798, 8.6.1799, 1.8.1799.
[16] StAHH, Allg. Armenanstalt I 78, Vortrag Abendroths im großen Armenkollegium, 22.11.1797.
[17] (Günther): Thorsperre, S. 12.
[18] StAHH, Allg. Armenanstalt I 78, Vortrag Abendroths im großen Armenkollegium, 22.11.1797.
[19] StAHH, Allg. Armenanstalt I 78, Abendroths zum Bau von Kleinwohnungen, 6.11.1797.
[20] (Günther): Thorsperre, S. 4.
[21] (Günther): Thorsperre, S. 8
[22] Verhandlungen und Schriften, Bd. 2 (1793), S. 462.
[23] StAHH, Senat Cl VII Lit Cc No 1 Vol 3g Fasc 12a 74b, Anlage B zum Senatsantrag zur nächtlichen Toröffnung, 27.7.1798.
[24] Ungefähr von 50 Millionen auf 66 Millionen Quadratfuß, so Heß: Hamburg, Teil 3, S. 225.
[25] StAHH, Senat Cl VII Lit Cc No 1 Vol 3g Fasc 12a Dok 24, Senatsbeschluss vom 10.1.1798.
[26] StAHH, Senat Cl VII Lit Cc No 1 Vol 3g Fasc 12a Dok 24, Protestnote Günthers gegen den Beschluss vom 10.1.1798.
[27] StAHH, Senat Cl VII Lit Cc No 1 Vol 3g Fasc 12a Dok 71, Günther an Sieveking, 8.7. o. J., wohl 1798.
[28] StAHH, Allg. Armenanstalt I 78, Memorandum Abendroths zur Frage des Baus von Kleinwohnungen, 6.11.1797.
[29] StAHH, Senat Cl VII Lit Cc No 1 Vol 3g Fasc 12a Dok 41, ein Lehrer der Paßmannischen Armenschule an Abendroth, 20.5.1798.
[30] StAHH, Senat Cl VII Lit Cc No 1 Vol 3g Fasc 12a Dok 41, ein Lehrer der Paßmannischen Armenschule an Abendroth, 20.5.1798.
[31] StAHH, Senat Cl VII Lit Cc No 1 Vol 3g Fasc 12a Dok 71, Günther an Sieveking, 8.7. o.J., wohl 1798.
[32] StAHH, Senat Cl VII Lit Cc No 1 Vol 3g Fasc 12a Dok 73, Brief Abendroths, o. D., wohl 1798.
[33] StAHH, Senat Cl VII Lit Cc No 1 Vol 3g Fasc 12a Dok 47, Memorandum Axens, 11.6.1798.
[34] Anderson: Sammlung, Bd. 5, S. 79–83.
[35] Anderson: Sammlung, Bd. 5, S. 246.
[36] Anderson: Sammlung, Bd. 6, S. 59f.
[37] StAHH, Senat Cl VII Lit Qa No 3 Vol 12 Fasc 3b Dok 6, Memorandum der Armenanstalt über die Integration St. Georgs, 1799.
[38] Rambach: Versuch, S. 12.
[39] Beneke: Tagebücher, 11.9.1799, Heß: Hamburg, Teil 1, S. 311f.
[40] Hannmann: Wimmel, S. 115–117.
[41] Heß: Hamburg, Teil 1, S. 58–62, Zitat S. 59.
[42] Klessmann: Geschichte, S. 383.
[43] Meyer: Darstellungen, S. 115.
[44] Minder: Briefe, S. 26f.
[45] Morgenblatt für gebildete Stände, 25.5.1807. Dr. Meyer war seit 1806 Hamburger Korrespondent des Morgenblatts. Riedel: Meyer, S. 93f.
[46] Zitiert nach Klessmann: Geschichte, S. 383.
[47] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 13. Der Senat berichtete über die Unruhen an seinen Vertreter Colquhoun in London. Er sollte dem Eindruck unkontrollierter Gewalt, der in England entstanden war, möglichst entgegenwirken. Vgl. auch Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 345f. und Anderson: Sammlung, Bd. 7, S. 284–286.
[48] Beneke: Tagebücher, 19.4.1808.