Kurz nach 1800 erreichte der Krieg zwischen Frankreich und Großbritannien Hamburg. Die Schifffahrt auf der Elbe stockte und kam zeitweilig ganz zum Erliegen. Arbeitslosigkeit breitete sich im Hafen und in den Fabriken aus und die Politiker der Republik fragten sich, ob die Stadt ihre Bevölkerung noch ernähren konnte.
Dies ist Teil 26 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Die Bevölkerungszahl war für aufgeklärte Sozialpolitiker ein zentraler Indikator der Gesundheit ihres Gemeinwesens. Sie konnte zu niedrig liegen, dann hatte die Regierung versäumt, die Weichen für wirtschaftliches und demografisches Wachstum richtig zu stellen. So war es in Süditalien, wo Johann Heinrich Bartels auffiel, dass sich Landesfläche und Bevölkerung nicht in der Relation befanden, die sich in einem mit Weisheit geordneten Staate finden sollte.[1] Es fehlten Menschen und das Land entfaltete nicht seine natürliche Produktivkraft. In einer Großstadt wie Hamburg aber, wo wahrscheinlich jeder Senator in Verlegenheit geriet, wenn er auch nur die ideale Bevölkerungszahl der Republik hätte angeben sollen, war das nur schwer in konkrete Politik umzusetzen. Die Unsicherheit war groß und es machte sich generell eine Trendumkehr bemerkbar. Viele Bürger fingen an, sich vor Überbevölkerung zu fürchten. Sie wurden zu Malthusianern.
Die Hoffnung auf Prosperität durch steigende Bevölkerungszahlen, die der reisende Bartels beim Anblick menschenleerer Landschaften in Italien verspürt hatte, kam in Hamburg abhanden, nachdem die Hochkonjunktur der 1790er-Jahre zu Ende gegangen war. Jetzt drängte sich die Frage auf, wie viele Menschen diese Stadt eigentlich ernähren konnte und ob es vielleicht schon zu viele von ihnen gab. Es kann in einem Staate, so referierte Dr. Abendroth kurz nach der Jahrhundertwende im Ratssaal in einiger Ausführlichkeit, der noch vieles unbebautes Land und also auch viele unbenuzte Hülfsquellen hat allerdings nicht leicht der Fall seyn daß er zu viele Bewohner hat, allein eine einzelne Stadt die nur eine gewisse Menge an Menschen zu ernähren im Stande ist, kann leicht übervölkert werden wie dies in Hamburg jetzt da die Gewerbe stoken … sichtbar ist. In ausserordentlichen Zeiten wie in den Jahren 95 – 99 müssen wir ausserordentliche Hülfe haben da wir in solchen Zeiten mit unsern eignen Kräften nicht auslangen, allein nach solchen ausserordentlichen Zeiten können wir uns nicht richten vielmehr müssen wir unsre Masregeln nach den künftigen ordentlichen Zeiten ausrichten.[2] Nur was waren die künftigen ordentlichen Zeiten und wie sahen überhaupt die gegenwärtigen aus? Sehr problematisch, so die Analyse Abendroths. Alle Handwerke sind nicht allein für unsre Bedürfnisse sehr reichlich besezt, sondern auch aufs beträchtlichste überbesezt also jeder der sich neu etablirt nimt nicht nur einem ältern Bürger die Nahrung, sondern wird auch in kurzer Zeit dasselbe erleben, was er bey seinem etablissement gethan hat, ihm wird auch seine Kundschaft wieder genommen.[3] Das waren keine guten Aussichten. Aber wie sah es mit der Bevölkerungsentwicklung in Hamburg überhaupt aus?
Hamburg war dicht bevölkert. Auf den fünf Quadratkilometern innerhalb der Stadtmauern lebten etwa 100.000 Menschen. Pro Quadratkilometer waren das 20.000[4] – knapp unter der Bevölkerungsdichte Kalkuttas Anfang des 21. Jahrhunderts.[5] In der grünen Stadt von heute sind es weniger als 2.500. Jeder spürte die Enge. Um Hopfenmarkt, Börse und Rathaus stauten sich Menschen und Fuhrwerke. Bedenklich sah es in den Quartieren der Armut aus. Menschen, wie in Sklavenschiffen, oder Heringstonnen bey einander gepackt,[6] entdeckte der frisch gewählte Armenpfleger Ferdinand Beneke 1798 in den Gängevierteln.
Die Wahrnehmung entsprach dem statistischen Befund. Zwischen 1790 und 1800 förderte der wirtschaftliche Boom das Bevölkerungswachstum. Topograf Jonas Ludwig von Heß hatte Anfang der 1790er-Jahre die Bevölkerung der Stadt inklusive St. Georg und St. Pauli auf 95.000 geschätzt. Johann Jakob Rambach berechnete für 1800 eine Bevölkerung von 111.000.[7] Dieses Wachstum ging ausschließlich auf das Konto massiver Zuwanderung, denn im Gegensatz zu den steigenden Einwohnerzahlen verzeichnete die Stadt ein erhebliches Geburtendefizit. Die Folge: Die Bevölkerung der Stadt bestand zu 50 Prozent aus Zuwanderern.[8] Die Wohnbevölkerung der Stadt war also außerordentlich mobil. Ohne Zuzug vom Lande, aus Holstein, Mecklenburg und Niedersachsen, würde es mit der brillanten Handelsrepublik auf mittlere Sicht ein Ende haben. Im jährlichen Durchschnitt betrug die Zahl der Geborenen in den 1790er-Jahren 3.400, die Zahl der Gestorbenen 4.000.[9] Von 1.000 Gestorbenen waren in Hamburg 378 Kinder unter zwei Jahren.[10] Die Kindersterblichkeit lag also bei fast 40 Prozent. Aber das war im alten Europa nichts Besonderes.
Bis 1810 fiel die Bevölkerungszahl auf 99.000.[11] Diese Zahl, errechnet nach den Regeln der politischen Arithmetik von Topograf Heß, passte gut ins Bild. Die Konjunktur kippte, die Zuwanderung ließ nach und wegen des Geburtendefizits begann die Einwohnerzahl der Stadt zu sinken. Auffällig aber verhielten sich die Geburts- und Todesfälle. Sie näherten sich einem Gleichgewicht: 42.500 Geburten und 43.500 Todesfälle insgesamt zwischen 1801 und 1810. Es deutete sich eine demografische Revolution an, die in Kürze auch wirklich eintreten sollte: Die Bevölkerung der Republik begann biologisch zu wachsen. Aber alle Zahlen waren umstritten. 1811 führte die neue französische Administration eine Zählung durch, die für Stadt und Vorstädte schon 109.000 Einwohner auswies, davon 5.000 in St. Georg, 7.000 in St. Pauli.[12] Unbestreitbar aber war Hamburg eine junge Stadt. Die Bevölkerung von Alt- und Neustadt setzte sich aus 47.000 Erwachsenen, 38.000 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren und 10.000 Dienstboten zusammen.
Bevölkerungspolitik war ein weites Feld. Alle rechneten und zählten, und alle kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Das kleine Ritzebüttel war übersichtlicher, hier ließ Abendroth jedes Jahr zählen. Von 1810 bis 1820 erhöhte sich die Bevölkerung von 4.000 auf 4.700. Er fand es eher besorgniserregend. Ob diese Vermehrung ein Glück ist oder nicht wage ich nicht zu bestimmen, der Gouverneur äußerte sich einmal uncharakteristisch zurückhaltend, bey Nahrungslosen Zeiten ist die Bevölkerung viel zu stark, aber mit aller Bemühung ist bey unser hamburgischen sanften Regierung dies nicht zu hemmen.[13] Womit er andeutete, dass sich die Bevölkerung nach den ökonomischen Möglichkeiten richten musste, die Republik aber keine Mittel in der Hand hatte, dies zu erreichen.
Caspar Voght sah das ähnlich. Wo Menschen leben können, leben sie; wo ihrer zu viele sind, kränkeln und sterben sie, bis das Verhältnis wieder hergestellt ist. Und so lange nicht diese Besorgnis die Ehen hindert, so lange Mangel an Arbeit diese Menschen nicht forttreibt, wird kein Policei-Gesetz bei unsrer Verfassung diese falsche Bevölkerung hindern.[14] Besonders optimistisch klang das auch nicht. Außer Frage stand für Voght, dass es eine falsche, nicht wünschenswerte Bevölkerung gab. Nur half dagegen eben nicht die Polizei, sondern wirtschaftlicher Wettbewerb, bei dem es Gewinner und Verlierer geben würde. Genau gesehen gab es viel mehr Fragen als Antworten. Selbst die Patriotische Gesellschaft war unsicher. Johann Arnold Günther hielt die Beschränkung von Heirat und Fortpflanzung für zulässig, Georg Heinrich Sieveking sah darin einen Eingrif in ein Recht der Menschheit.[15]
Spätestens ab 1800, nach dem Ende der Hochkonjunktur, kam die Republik in die Verlegenheit, sich mit diesen Fragen auseinandersetzen zu müssen. Es gab deutliche Anzeichen dafür, dass die Bevölkerung verglichen mit ihrer ökonomischen Existenzgrundlage zu stark gewachsen war. Die Sozialpolitiker sahen es an den rasch steigenden Defiziten der Armenanstalt. Jahrelang hatten sie sehr optimistisch das Ende der Armut verkündet. Jetzt zeigte sich, dass das Nachgeben der Konjunktur alles infrage stellte. Die Armut war wieder da. Die Bäume wuchsen nicht in den Himmel, man hatte es mit einem endlichen Produktionsniveau zu tun, das mit den guten und schlechten Jahren schwankte, aber immer um ein wenig veränderbares Mittelmaß oszillierte. Die guten Jahre waren soeben zu Ende gegangen, die üblichen mittel bis schlechten standen vor der Tür, aber die Bevölkerung hatte sich an das vorübergehende wirtschaftliche Optimum der 1790er-Jahre angepasst. Es waren zu viele Menschen in der Stadt.
Mehrere Ansatzpunkte kamen infrage, um das Bevölkerungswachstum zu bremsen: weniger uneheliche Geburten, weniger Eheschließungen, weniger Einwanderung, auf jeden Fall weniger. Nur wie war das zu erreichen? Es begann mit den unehelichen Kindern. Von 27.000 Kindern, die von 1792 bis 1799 geboren wurden, waren 3.000 unehelich.[16] 1811 wurden in Michaelis 240, in Jacobi 184, hingegen in Katharinen nur 31, in Petri 15 und in Nikolai 5 uneheliche Geburten verzeichnet.[17] Das entsprach ziemlich genau der sozialen Geografie. Die wohlhabenden, bürgerlichen Stadtteile kannten das Problem kaum, während es in den dicht bevölkerten armen Quartieren von unehelichen Kindern nur so wimmelte. Das blieb nicht unbemerkt. Die bürgerliche Öffentlichkeit hatte wenig Verständnis für die Zustände in dem an Bastarden so reichen Jakobi Kirchspiel.[18] Selbst Dr. Abendroth, der Sozialanalytiker, ereiferte sich kurz im Senat über die immer steigende immoralität und die fortschreitender ausschreitende Lebensart der niederen Klassen. Er konnte das natürlich mit einschlägigen Daten begründen: Aus der … anliegenden Tabelle ergiebt es sich, daß im Jahr 1769 das 11te Kind … und im Jahr 1799 das 7te Kind ein uneheliges war. Wahrlich ein resultat, was auch den leichtsinnigsten Beobachter zum nachdenken bringen kann, in dem wegen seiner immoralität so verschrieenen Berlin ist nur das 9te Kind ein uneheliges.[19]
Aber wie meinte er das? In Armenanstalt und Senat wollte man so etwas hören, Abendroth wusste das. Eigentlich hatte er seine Zweifel, ob das ewige Moralisieren ans Ziel führen würde. Aber die Armenanstalt verlangte vom Senat Schritte zur Eindämmung, denn sie musste immer mehr Geld für uneheliche Kinder ausgeben. 43 hatte sie 1801 aufgenommen und sie kosteten fast 4.000 Mark im Jahr.[20] Ihre Korrektivvorschläge fielen reichlich drastisch aus: Geldstrafe bei der ersten Schwangerschaft; ein Jahr Arbeit im Zuchthaus bei der zweiten, Spinnhaus bei der dritten. Abendroth fand es nötig, im Senat dazu eine Erklärung abzugeben: In allen diesen Vorschlägen herrscht … durchaus der Geist daß für das schuldlose Kind stets gesorgt wird, und wenn in einzelnen Fällen einige Härte ausgeübt werden soll, diese einzig gegen die Mutter statt findet.[21]
In der senatorischen Beratungskommission, die sich mit den Wünschen der Armenanstalt beschäftigte, wurde er dann deutlicher: Eine radical Cur ist hier wohl am aller wenigsten zu erwarten. Die Zeit wird alles wieder mehr ausgleichen, und die Vorschläge der Commission werden nur vorzüglich dahin gehen können daß das Uebel sich nicht vermehre, und daß diese von der Zeit zu verantwortende Ausgleichung so ruhig als möglich sich nähere.[22] Der Senator ging auf Distanz zum Social Engineering der Aufklärung, die für vieles eine Lösung zu haben glaubte und dabei nicht immer vor Eingriffen in Intimsphäre und Selbstbestimmung zurückschreckte. Er fand das nicht zweckmäßig, nicht zielführend. Kollege Christian Matthias Schröder auch nicht. Er wollte den Verführer strafen.[23] Jetzt gab es auch einen der seltenen Momente, in denen im Senat mit Gleichheit argumentiert wurde: Was bei den Wohlhabenden nicht bestraft werde, dürfe auch bei den Armen nicht bestraft werden. Im Übrigen sei es vergeblich, einen Naturtrieb zu unterdrücken. Dabei blieb es.[24]
Unter der Leitung ihres Senators Abendroth setzte die Republik auf Hilfe statt auf Strafe. Dafür gab es gute Gründe, denn die Sozialpolitiker mussten sich eingestehen, dass sie mit Repression nicht sonderlich weit kamen. Trotz aller Strafmaßnahmen gab es in der Stadt eine Dunkelwelt verheimlichter Geburten und ermordeter Kinder. 1802 entdeckte die Polizei bis Ende August 40 ausgesetzte Kinder. Im selben Zeitraum wurden vier tote Säuglinge gefunden und Untersuchungen gegen vier Frauen wegen heimlicher Geburt mit anschließendem Tod des Kindes eingeleitet.[25] So wie die ehemalige Präturentbindungsanstalt in Wandsbek, erläuterte Dr. Abendroth im Senat, … diese Mord und Raubhöhle für dorthin geschikte Schwangere, lange fortdauerte, und man eine solche Person für nothdürftig versorgt hielt, so bald sie dorthin geschikt war, so gab es auch ähnliche Mordhöhlen für die unehligen Kinder in welchen ein Kind nie über 4–6 Wochen lebte und leben durfte, in welchen durch kochend heisse Speisen und sonst angewandte Mittel die Kinder in kurzer Zeit hingezehrt wurden. So wie A.S, der Senat, aber die ersterwähnte EntbindungsAnstalt mit gerechtem Abscheu sogleich aufhob, wie die dort verübten Greuel zu seiner Kenntnis kamen, so ist den in diesen schändlichen Schlupfwinkeln Hausenden das langsame Kindermorden durch Hülfe der Herrn Prätoren ihr Gewerbe von der A.A., der Armenanstalt, möglichst gesteuert worden, und wer kann sich eine Mutter so gefühllos denken daß sie nicht, da jezt eine andere Hülfe für sie da ist, diese jenem schändlichen Kindermord vorziehen sollte?[26]
Diese andere Hilfe war das Geburtshaus für unverheiratete Mütter. Die Armenanstalt hatte es 1796 im Werk- und Armenhaus eingerichtet.[27] Bis 1809 kamen dort 1.143 Kinder zur Welt. Eine hohe Zahl – 22.000 Geburten wären es hochgerechnet auf die heutige 2-Millionen-Stadt Hamburg. Das Haus wurde zu einem wichtigen Teil des sozialen Hilfsangebots der Republik. Ergänzt wurde die Geburtsstation durch eine Fütterungsanstalt, die in St. Georg sechs Kleinkinder versorgte. Abendroth unterstützte das Projekt.[28]
Wie üblich aber schossen seine Kollegen über ihr Ziel hinaus. Sie liebten ausführliche Vorschriften. Der Praktiker hatte aber die Erfahrung gemacht, daß wenn man gar zu viel vorschreibt, man am wenigsten die Vorschriften befolgt.[29] Also Simplifizierung der Regeln – auch so ein Lieblingswort des Doktors. Den Anfang mit der Simplifizierung konnte man bei der anstaltseigenen Kuh machen.[30] An sich war die Kuh eine gute Idee. Die Milchhändler streckten ihr Produkt gerne, bis vom Nährwert nicht mehr viel übrig war. Aber musste das Gründungskomitee gleich ein Regulativ über die Kräuterfütterung des Tieres abfassen? Aufsicht auf die Kräuter die die Kuh frist, scheint mir auch zu den zu weit getriebenen Vorschriften zu gehören, es wird hinlänglich seyn, daß sie gutes Futter erhält, und daß die Kinder nur diese Milch geniessen wenn sie gesund ist.[31] Mehr war vernünftigerweise nicht zu tun, gesunde Ernährung hin oder her.
Es war allerdings nicht so, dass das Problem sich erledigt hätte. Noch im ersten Geschworenenprozess unter der neuen französischen Gerichtsordnung ging es um eine verheimlichte Geburt und anschließende Kindstötung.[32] Der Vorsitzende der Jury war Ferdinand Beneke. Unter seiner Anleitung entschieden die Geschworenen für Freispruch. Möglicherweise hatte die Angeklagte, sie hieß Maria Maaß,[33] bis zuletzt Zweifel an ihrer Schwangerschaft, vielleicht auch war es wirklich eine Totgeburt, so Benekes Argumente. Wichtiger war wohl, dass er spontan Mitleid mit dem Mädchen empfand. Vielleicht hatte er auch unterschwellig das Gefühl, in einem französischen Gerichtshof für deutsche Freiheit zu demonstrieren.
Also Freispruch. Nun kehrten wir zwölf Apostel der Freyheit in den Gerichtssal zurück, so beschrieb Beneke hoch gerührt die Szene. ‚Herr Präsident!‘ so war meine (vorgeschriebene) Anrede, – ‚auf Ehre und Gewißen! vor Gott, und den Menschen erkläre ich Namens der Jury, die Angeklagte für nicht schuldig.‘ – Ein freudiges Gemurmel folgte auf die beklommene Stille in dem mit zahllosen Zuschauern angefüllten Sale, und mit klopfendem Herzen bemerkte ich das Zudrängen der alten Eltern der Angeklagten, als sie nun zur Anhörung ihres Urteils in den Sal zurückgeführt wurde. Mit heftigem Schluchzen vernahm sie aus dem Munde des Präsidenten ihr glückliches Loos. Das Gericht war vorbey. Die Angeklagte wurde sogleich in Freyheit gesetzt.[34] Nicht ohne dass der Jury-Vorsitzende Beneke ihr noch ein paar gute Ratschlage für ihr zukünftiges moralisches Betragen gegeben hätte. Bürgermeister-Maire Abendroth war mit dieser Inszenierung der Rührseligkeit nicht einverstanden und meinte, die Angeklagte hätte zumindest wegen grober Nachlässigkeit bestraft werden müssen.[35] Prävention durfte aus seiner Sicht nicht mit Straflosigkeit verwechselt werden.
Geburtshaus und Fütterungsanstalt boten konkrete Hilfe an. Es war das Programm Dr. Abendroths, der ja davon überzeugt war, daß es eine perfecte Pflicht und Obliegenheit der Obrigkeit ist, dem Uebel und der Nothwendigkeit zu strafen, wenn es irgendmöglich ist vorzubeugen.[36] Die Polizeistatistik des Jahres 1826 verzeichnete keinen einzigen Verdachtsfall der Tödtung eines neugebornen Kindes, keinen einzigen Fall von Kindermord und nur einen Fall von Weglegung eines Kindes, der Aussetzung eines Säuglings also.[37] Kein Vergleich mit dem Jahr 1802. Das war die gute Nachricht, allerdings: Zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums waren diese Maßnahmen untauglich.
Vielleicht half ja die Beschränkung der Eheschließungen. Heirat bedeutete für die kleinen Leute der Republik nicht nur Gründung einer Familie, schon gar nicht den glücklichen Höhepunkt eines aufregenden Liebesprojektes – jedenfalls nicht nur. Im weitesten Sinne war die Heirat so etwas wie die Gründung einer Existenz. Sie ging einher mit der Etablierung eines Betriebes, eines handwerklichen Ateliers, einer kleinen Schneiderei, einer Kneipe oder eines Krämerladens zum Beispiel. Damit aber verstärkte eine frisch geschlossene Ehe automatisch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, der nach 1800 ohnehin deutliche Krisensymptome zeigte. Empfahl sich zur Senkung von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung möglicherweise die Beschränkung des Heiratens? Und wenn ja, würden sich die Ausgeschlossenen an das Verbot halten und nicht vielleicht doch auf Abwege geraten, die noch problematischer waren?
Senator Abendroth betrieb Ursachenforschung. Im Herbst 1802 schrieb er an seine Mitkommissare Syndikus Johann Michael Gries und Senator Christian Matthias Schröder über den ungeheuren Leichtsinn mit dem man sich hier verheyrathet, dies wird jezt bey dem fallenden Erwerbe immer drükender und die Anzahl der Kinder die von ihren Eltern nicht mehr ernährt werden können, da der Erwerb sich vermindert und die Theurung vorzüglich der Wohnungen noch immer bleibt. Einem jungen Anfänger der sich erst etablirt fehlt es nicht im Anfange durch seine und seiner Frau Bekannten etwas Kundschaft zu erlangen. Allein wenn die Consumtion nicht mit der Zahl der vermehrten Verfertiger sich vermehrt, so wird diese Kundschaft des neu etablirten Bürgers einem andern FamilienVater entzogen, und in kurzer Zeit geht es diesem jezt neuen Arbeiter wieder wie seinem älteren Mitarbeiter, auch ihm wird nach einigen Jahren seine Kundschaft wieder von einem noch später etablirten Bürger entzogen.[38] Es war das klassische Dilemma einer vorindustriellen Gesellschaft, vom Sozialpolitiker Abendroth in kurzen und klaren Worten zusammengefasst. Der eine Punkte und das andere Komma hätten die Verständlichkeit seiner Ausführungen erhöht.
Nach Abendroths Daten hatten im Jahr 1769 schon 932 Paare geheiratet, 1799 aber 1.488.[39] 1769 hatte es damit eine Eheschließung pro 87 Einwohnern gegeben, 1799 eine Eheschließung pro 67 Einwohnern. Nach der Heiratsfrequenz von 1769 hätte es nach seinen Berechnungen im Jahr 1799 nur 1.157 Eheschließungen geben dürfen. Es gab aber 1.488. Das machte 331 Familien mehr, als nach dem Stand von 1769 zu erwarten war, und eben 331 mehr, als die Stadt versorgen konnte. Womit ernähren sich die 331 Familien die zu viel geheyrathet haben? – Schon daß von 87 Menschen zwey heyrathen ist unerhört, wie viel mehr ist es aber der Umstand daß 1799 von 67 Menschen zwey geheyrathet haben.[40] Es war eine sehr gute Frage, auf die es angesichts des wirtschaftlichen Rückgangs keine wirklich gute Antwort gab. Noch schwieriger war es zu entscheiden, wie denn diese 331 überzähligen Familiengründungen hätten verhindert werden können. Es fehlt, Abendroth gab es zu, meiner Meynung nach hier an Mitteln diesem Uebel zu steuern. Höchstens wird es zwekmässig seyn etwas darüber in der Verordnung einfliessen zu lassen und die Heyratslustigen auf die traurigen Beyspiele unter ihren Bekannten aufmerksam zu machen. Das übrige mus die Zeit auf eine für diejenigen die es trift zwar harte aber sicher helfende Art thun. Jede Erschwerung würde noch mehr Unordnung hervorbringen und vielleicht gar zu unnatürlichen Lastern führen.[41]
Ob sich die Heiratslustigen von traurigen Beispielen einschüchtern lassen würden, stand dahin. Richtig lag Abendroth auf jeden Fall mit der größeren Unordnung, die Restriktionen beim Heiraten nach sich ziehen würden. Es gab deutsche Staaten, die die Eheschließung erschwerten – in Süddeutschland zum Beispiel. Sie handelten sich damit wesentlich höhere Quoten unehelicher Geburten ein. Es war das Letzte, was sich ein aufrechter, aufgeklärter Familienpolitiker wünschte. Die Vernunft und vor allem die Sozialstatistiken zeigten, dass mit Repression in der Ehe- und Familiengesetzgebung wenig zu erreichen war, dass im Gegenteil mit höchst unerwünschten Nebeneffekten gerechnet werden musste.
Es war für die Republik also am klügsten, in dieser heiklen Materie fürs erste gar nichts zu tun. In gewisser Weise war das Fortschritt durch kluges Nichtstun. Überraschenderweise aber ging die Zahl der Eheschließungen nach der Jahrhundertwende trotzdem zurück. 1811 gaben sich nur noch 872 Paare das Jawort.[42] Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass dafür die düsteren Konjunkturaussichten die Ursache waren, die jeder in seinem kleinen Laden spürte. In gewisser Weise konnten sich also die alarmierten Bevölkerungspolitiker beruhigen. Dem Bevölkerungswachstum waren Grenzen gesetzt, es reagierte über die Heiratspraxis unmittelbar und praktisch ohne Zeitverzögerung auf die Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen.
Ein weiterer Faktor sprach übrigens dafür, dass selbst eine hohe Frequenz bei den Eheschließungen das Wachstum der Bevölkerung nur begrenzt antreiben würde: Die Fruchtbarkeit dieser Ehen war gering. Auf eine Ehe kamen um 1800 in Hamburg 2,4 Geburten,[43] während die Quote in anderen größeren deutschen Städten in der Regel bei mehr als 3 lag. Ähnlich niedrige Geburtsquoten gab es nur noch in Amsterdam. Als Ursache vermutete Rambach unter anderem das relativ hohe Heiratsalter der Frauen. Das hatte errechenbare biologische Folgen. In modernen Gesellschaften mit ihrer extrem niedrigen Kindersterblichkeit sichern 2,1 Kinder pro Paar eine stabile Bevölkerungszahl.[44] In vormodernen Gesellschaften mit Kindersterblichkeitsquoten von 40 Prozent – Hamburg bildete hier keine Ausnahme – reichten 2,4 Kinder bei weitem nicht. Biologisch musste die Bevölkerung bei dieser Kombination von Geburtenquote und Kindersterblichkeit schrumpfen – und so war es auch in Hamburg.
Objektiv also brauchte die Stadt Zuwanderer, aber dann kamen doch mehr als bestellt. So manche Fremde, besonders weiblichen Geschlechts, kommen auf Speculation der Armen-Anstalt in die Stadt,[45] meinten Caspar Voght und Georg Heinrich Sieveking und hatten dabei junge Mädchen aus dem Holsteinischen und der Lüneburger Heide im Auge, die in den Haushalten der reichen Stadt arbeiten wollten. Die Zahl der Dienstboten lag bei 15.000, gewaltig bei einer Bevölkerung von gut 100.000.[46] Oft hatten sie Glück, fanden Arbeit und kauften sich schöne Kleider. So mäkelten die etwas verbiesterten Aufklärer über den Luxus unter den Dienstboten. Oft aber hatten sie auch Pech und landeten zusammen mit anderen Gescheiterten irgendwann bei der Armenanstalt. Wie sollte sich also die Republik zur Einwanderung verhalten? Die traditionelle Einstellung war sehr liberal: Der Staat war zufrieden, … daß die Kräfte der Gesammtheit vermehrt wurden, gleichviel, ob der Ansiedler baares Vermögen mitbrachte oder nicht.[47] Das blieb aber nicht so.
Die Zuwanderung beschleunigte sich in der zweiten Hälfte der 1790er-Jahre, sie war ein Phänomen der überschäumenden Konjunktur dieser Zeit. Von 1793 bis 1804 wurden 15.433 Personen eingebürgert, ob als Bürger oder als Schutzbürger mit eingeschränkten Rechten. Das waren pro Jahr fast 1.300. Zuvor lag der Durchschnitt bei 500 bis 600 jährlich.[48] Im Stadtzentrum konnte jeder Interessierte den Ansturm mit eigenen Augen beobachten. Freitag war Einbürgerungstag und auf dem Rathaus drängten sich die Massen,[49] darunter viele geborene Hamburger, die ebenfalls das Bürgerrecht erwerben mussten. Nach Schätzungen der Armenanstalt befanden sich unter den Neubürgern aber immerhin an die 9.000 Zuwanderer, meist ärmere Leute, Arbeiter und Handwerksgesellen mit prekären Aussichten. Dann begann nach 1800 die Krise auf dem Arbeitsmarkt. Fazit und Appell der Armenanstalt, aufgesetzt und im Senat zum Vortrag gebracht von Johann Heinrich Bartels: Zu hohe Miethe, und schon seit 8 Jahren dauernder Mangel an Erwerb in dieser Klasse, sind ja wohl die deutlichsten Beweise, daß unsere Bevölkerung übertrieben ist, und sollte noch ein stärkerer Grund nöthig sein, so ist es der …, daß der Staat doch wohl das Bürgerwerden der Fremden erschweren muß, der in die traurige Nothwendigkeit gesezt ist, das Auswandern der schon angesiedelten, befördern zu müssen.[50]
Aktuell war die Einbürgerung zu einfach, das war Konsens. Die Kandidaten mussten lediglich Bürgen mitbringen und wurden befragt. Aber niemand kontrollierte die Antworten und Bürgen konnte man kaufen.[51] Kontrollen waren also wünschenswert. Dafür aber war eine schlagkräftige Polizeibehörde nötig. Eine radical Kur würde hier nur dann möglich seyn, meinte Abendroth, wenn man unsre ganze Polizey in eine Behörde vereinigte es ist unmöglich daß eine Sache ordentlich betrieben werden kann wenn immer der eine auf den andern sich zu verlassen Veranlassung hat.[52] Die Republik hatte so eine Behörde noch nicht. Bartels richtete sie nach 1814 ein und eines ihrer Hauptziele war in der Tat die praktische Kontrolle der Zuwanderung mit Pässen, Stempeln, Hausdurchsuchungen und allem, was dazu gehörte. Davon später mehr.
Die Zulassung zum Bürgerrecht durfte, wie Senator Abendroth fand, trotzdem nicht allzu restriktiv gehandhabt werden. Für die Abschottung gab es durchaus Ideen. 300 oder 600 Mark zum Beispiel, vom Neubürger als Depositum, als Sicherheit zu hinterlegen. Im Alter könnte er daraus eine kleine Rente beziehen. Praktikabel war das nicht: Wir müssen darauf denken, so Abendroth, das Bürgerwerden zwar unter Aufsicht zu haben aber es auch nicht gar zu sehr zu erschweren da wir ohne Zuflus aus der Fremde gar nicht bestehen können Wenn nun ein sich etablirendes Paar in dem theuren Hamburg seinen Hausstand eingerichtet, wenn es die Kosten des Bürgerwerdens bezahlt, wenn es als Handwerker sich mit dem Amte kostspielig abgefunden hat, woher soll dann noch ein Posten von 100 bis 200 Taler kommen über den ein solches Ehepaar noch dazu nicht soll disponiren können, wahrlich wenn nur die heyrathen sollen die völlige Gewisheit haben wenigstens 10 Jahre ihr Brodt zu haben so wird Hamburg bald aussterben, wenn dies Geld nun noch gar dazu angewandt werden sollte, im 60sten Jahre diesen Leuten eine Pension zu verschaffen wenn sie so lange leben, … so häufen sich die Schwürigkeiten so sehr, daß sie mir wenigstens ganz unüberwindlich scheinen.[53]
Einbürgerung sollte im Übrigen nicht zur Officiantensache werden. Das war Code für allerlei Schiebungen und Unregelmäßigkeiten, die sich Beamte zum eigenen Vorteil erlaubten. Sie hatten in der Republik und besonders bei Senator Abendroth keinen guten Ruf. Bei anderer Gelegenheit warf er ihnen vor, Bürger nur gegen Bestechung zum Gespräch mit ihrem Senator vorzulassen.[54] Abendroth entwarf das neue Einbürgerungsgesetz, und Ende Oktober 1805 passierte es die Bürgerschaft.
Die Idee, die dahinterstand, hatte Senator Johann Arnold Günther schon einige Jahre zuvor zu Papier gebracht. Dabei hatte der Staat Pflichten und der Bürger Rechte. Der Staat dürfe einem jungen anfangenden Staatsbürger sein Fortkommen nicht erschweren; er hat ein gegründetes Recht zu verlangen, daß ihm sein Fortkommen, wo nicht erleichtert, doch auch nicht erschwert werde.[55] Das war die eine Seite. Aber Masseneinwanderung von Armen war auch nicht erwünscht. Sie sollten an den Toren abgefangen werden. Einbürgerungskandidaten mussten eine formalisierte Untersuchung über sich ergehen lassen und einen Fragebogen ausfüllen, der sich ausführlich mit ihren Chancen beschäftigte, in der Bürgergesellschaft ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Falsche Antworten konnten zu Ausbürgerung und Ausweisung führen. Die Entscheidung trafen die Herren von der Wedde, die unter anderem für die Einbürgerung zuständig waren.[56]
Wie gewünscht, zeigten die Einbürgerungszahlen fallende Tendenz.[57] Aber wahrscheinlich waren es wieder eher die Auswirkungen der schlechten Konjunktur, die dazu führten, nicht die politischen Entscheidungen im Ratssaal.
1800: 1440 Einbürgerungen
1803: 910
1804: 830
1805: 820
1806: 810
1807: 690
1808: 640
1809: 640
1810: 730
Bei zu vielen Menschen half vielleicht Auswanderung oder die Gründung von Kolonien. Das Thema interessierte die Bevölkerungspolitiker Abendroth und Bartels. 1792 waren einige Jungen aus dem Werk- und Armenhaus auf Initiative Georg Heinrich Sievekings nach Philadelphia geschickt worden.[58] 1795/96 wurden mehr als 100 Gefangene nach Amerika verfrachtet.[59] Organisierte Auswanderung – oft auf undurchsichtige Weise verbunden mit Rekrutenwerbung – war hingegen in mehreren konkreten Fällen verboten worden.[60] 1818 hatte Polizeichef Bartels von einer derartigen illegalen Werbung Wind bekommen, ignorierte sie aber souverän. Er habe davon gehört, erzählte er seinen Kollegen im Senat, sie aber, so lange sie gehörig geheim betrieben worden sey, nicht habe stören wollen, da dadurch vieles Gesindel von hier entfernt werde.[61] So ging das also.
Grundsätzlich fragte sich allerdings, ob die Migrationsprojekte nicht eher mittellose Einwanderer in die Republik hinein- als aus ihr herausspülen würden. Diese Erfahrung machten gerade die Bürger von Amsterdam, die feststellen mussten, dass einige Auswanderer mit dem Ziel Amerika schon an der Zuiderzee kein Geld mehr hatten und auf die städtische Armenfürsorge angewiesen waren. Ähnliches befürchtete jedenfalls Polizeichef Abendroth, als er ein paar Jahre später im Senat über Auswanderer nach Brasilien berichtete. Mehr als 200 Württemberger und Hessen stachen Mitte Dezember 1823 auf der Caroline in See und kamen vier Monate später in Rio de Janeiro an.[62] Wenn, so meinte Abendroth, es nun gleich wünschenswehrt sey, sich auf solche Art eine Menge Vagabonden und müssigen Volks entledigen zu können, so ziehe dasselbe doch auch eine Menge dürftiger Fremden hieher, die künftig leicht dem Staat zur Last fallen könnten.[63] Der Polizeichef wollte sofort die Verbote gegen organisierte Auswanderung aushängen lassen, erhielt aber den Auftrag, mit dem Agenten Kontakt aufzunehmen, der die Migranten angeworben hatte. Er wohnte in St. Georg und war nicht schwer zu erreichen. Schaeffer – so hieß er – zeigte sich entgegenkommend, ließ vom brasilianischen Kaiser grüßen und erläuterte das Projekt aus Rio. Er vergaß allerdings zu erwähnen, dass dem frisch kreierten Kaiser mehr an Rekruten als an Einwanderern lag.
Praktisch gesehen bot sich damit ein Ventil für die diagnostizierte Übervölkerung der Republik. Die Diagnose lautete ja: Wir haben für unsere allerdings blühenden Gewerbe, zu viel Menschen und keine auswärtige Colonie, um uns zu purificiren.[64] Da kam das brasilianische Angebot wie gerufen. Jetzt berichtete Abendroth den Kollegen im Senat über den itzo möglichen Transport einiger Gefangenen aus den hiesigen Gefängnissen nach Rio de Janeiro.[65] Er suchte 14 Insassen aus dem Spinnhaus aus, dem Hochsicherheitsgefängnis der Republik, ließ sich kurz erklären, dass sie freiwillig nach Brasilien wollten, und schon im März 1824 befanden sich elf von ihnen auf hoher See.[66] Im Mai folgte eine weitere Gruppe: Zehn saßen wegen Diebstahls, neun wegen Desertion, zwei wegen Totschlags.[67] Aus Brasilien kamen später Beschwerden, die Republik hätte ihre Kriminellen geschickt. Die bestritt das hoch und heilig, was aber nichts daran änderte, dass es doch stimmte.[68] Insgesamt war der Anteil an Hamburgern hoch, von den gut 600 Passagieren kam knapp die Hälfte aus der Stadt.[69] Das brasilianische Projekt hatte also im Sinne des Polizeichefs Abendroth eine gewisse Plausibilität. Ein tragfähiges Modell zur Verminderung des demografischen Drucks war es nicht. Es gab Probleme über Probleme.[70] Die Kriminellen waren schwierig im Umgang. Einige wurden wegen Meuterei an Bord erschossen. Portugal wollte die Unabhängigkeit Brasiliens nicht wahrhaben und Preußen auch nicht einen einzigen wehrpflichtigen Untertanen nach Übersee entkommen lassen.
Für Abendroth war das Auswanderungsprojekt viel Arbeit bei mäßigem Ergebnis – was wahrscheinlich für die gesamte Bevölkerungspolitik galt. Damit hatten sich die aufgeklärten Herren etwas viel vorgenommen. Für die Bevölkerung der Republik war das wahrscheinlich ein Glück. Bevormundung beim Heiraten und Kinderkriegen war noch nie so eine gute Idee.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 26.
[2] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 11, Vortrag Abendroths im Senat, o.D., wohl 1802.
[3] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 11, Vortrag Abendroths im Senat, o.D., wohl 1802.
[4] Heß: Hamburg, Teil 3, S. 225. Er gibt die Fläche der Stadt inklusive Binnenalster und Befestigungsanlagen mit 192.000 Quadratruten = 49 Millionen Quadratfuß an.
[5] Kolkata, Population 2019, http://worldpopulationreview.com/world-cities/kolkata-population/, abgerufen 14.3.2019.
[6] Beneke: Tagebücher, 3.4.1798.
[7] Rambach: Versuch, S. 14 und 170f.
[8] Reincke: Forschungen, S. 171ff.
[9] Rambach: Versuch, S. 252. Totgeburten wurden nicht als Geburten gezählt.
[10] Rambach: Versuch, S. 275.
[11] Heß: Hamburg, Teil 3, S. 453–456.
[12] Matti: Bevölkerungsvorgänge, S. 108.
[13] StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel II Fach 1 Vol F1 Dok 15, Abendroths Bericht über Ritzebüttel 1820.
[14] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 359.
[15] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 360.
[16] Rambach: Versuch, S. 263.
[17] Heß: Hamburg, Teil 3, S. XI.
[18] Rambach: Versuch, S. 261.
[19] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 2, Memorandum Abendroths, September 1802.
[20] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 1, Vortrag Abendroths im Senat, 24.5.1802.
[21] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 1, Vortrag Abendroths im Senat, 24.5.1802.
[22] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 2, Memorandum Abendroths, September 1802.
[23] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 3, Memorandum Schröders, o. D.
[24] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 11, Vortrag Abendroths im Senat, o. D., wohl 1802.
[25] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 2, Memorandum Abendroths, September 1802.
[26] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 1, Vortrag Abendroths im Senat, 24.5.1802.
[27] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 252-254; Rambach: Versuch, S. 426-428.
[28] StAHH, Allg. Armenanstalt 118 Blatt 41, Referat Abendroths, 14.4.1799.
[29] StAHH, Allg. Armenanstalt 118 Blatt 41, Referat Abendroths, 14.4.1799.
[30] Rambach: Versuch, S. 264f.
[31] StAHH, Allg. Armenanstalt 118 Blatt 41, Referat Abendroths, 14.4.1799.
[32] Abendroth: Wünsche, S. 75.
[33] Beneke: Tagebücher, Jahresrückblick 1811, S. 196.
[34] Beneke: Tagebücher, 20.9.1811.
[35] Abendroth: Wünsche, S. 75.
[36] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 11, Vortrag Abendroths im Senat, Juni 1822.
[37] Neddermeyer: Statistik, S. 512.
[38] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 2, Memorandum Abendroths, September 1802.
[39] Das waren auch exakt die Zahlen Johann Jakob Rambachs. Der hatte also in seinem kurz zuvor veröffentlichten Buch schon vorgearbeitet. Rambach: Versuch, S. 255.
[40] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 2, Memorandum Abendroths, September 1802.
[41] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 2, Memorandum Abendroths, September 1802.
[42] Matti: Bevölkerungsvorgänge, S. 105.
[43] Rambach: Versuch, S. 257.
[44] Durchschnittliche Kinderzahl, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Geburten/AktuellGeburtenentwicklung.html, abgerufen 14.3.2019.
[45] Verhandlungen und Schriften, Bd. 1 (1792), S. 390.
[46] Rambach: Versuch, S. 230.
[47] Heß: Hamburg, Teil 1, S. 488f.
[48] StAHH, Senat Cl VII Lit Qa No 3 Vol 12 Fasc 38c, Memorandum der Armenanstalt, 22.5.1805.
[49] (Günther): Thorsperre, S. 6.
[50] StAHH, Senat Cl VII Lit Qa No 3 Vol 12 Fasc 38c, Memorandum der Armenanstalt, 22.5.1805.
[51] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 11, Vortrag Abendroths im Senat, o. D., wohl 1802.
[52] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 11, Vortrag Abendroths im Senat, o. D., wohl 1802.
[53] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 11, Vortrag Abendroths im Senat, o. D., wohl 1802.
[54] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 6a Dok 11, Vortrag Abendroths im Senat, o. D., wohl 1802.
[55] (Günther): Thorsperre, S. 10.
[56] Anderson: Sammlung, Bd. 7, S. 51–58, dort auch der von Abendroth entworfene Fragebogen.
[57] StAHH, Staatsangehörigkeitsaufsicht A I a 12 und A I a 13, Bürgerbücher von Mai 1799 bis Sept. 1814.
[58] Kopitzsch: Grundzüge, Tl. 2, S. 619.
[59] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 116f.
[60] Richter: Auswanderungen, S. 93.
[61] Bartels 1818 im Senat, zitiert nach Richter: Auswanderungen, S. 94.
[62] Richter: Auswanderungen, S. 92f.
[63] Abendroth 1823 im Senat, zitiert nach Richter: Auswanderungen, S. 93.
[64] Abendroth: Bemerkungen, S. 25.
[65] Abendroth 1824 im Senat, zitiert nach Richter: Auswanderungen, S. 97.
[66] Richter: Auswanderungen, S. 97f.
[67] Richter: Auswanderungen, S. 98.
[68] Richter: Auswanderungen, S. 106.
[69] Richter: Auswanderungen, S. 100.
[70] Richter: Auswanderungen, S. 108–113.